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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Die Worte des Kanzlers machten tiefen Eindruck in der Kammer, und alle
die warmen und eindringlichen Worte, welche namentlich vom Ministertisch, von
dem Referenten Freiherrn Wilhelm von Gemmingen und von dem General-
superintendenten von Hall, dem Prälaten Beck, für den Entwurf gesprochen wurden,
konnten ihn nicht rettein Beck fragte den Kanzler, ob denn irgendeine Religions-
genosfenschaft ohne Dogmen bestehen könne, ob nicht selbst der krasseste Unglaube
seine Dogmen habe? ob irgendeine Gemeinschaft ohne Bekenntnis und ohne
alle Zuchtmittel ihren Gliedern gegenüber denkbar sei, und ob die Synodal¬
ordnung nicht gerade in der Kirchenzucht äußerst gemäßigt und vorsichtig sei?
Er berief sich anf die Geschichte und ihre Erfahrungen, auf Nümelins Ansichten
als Minister, auf das gute Recht der evangelischen Kirche auf Autonomie und
Selbstverwaltung; er sprach Stunden lang, so glänzend, so durchdacht, so fein,
daß selbst das Organ der Demokratie ihm volle Anerkennung zollte. Am Ende
wurde, wie gesagt, der Antrag des Kanzlers angenommen und der Negierung
mir anheimgegeben, durch besondres Gesetz die Ausscheidung des Kirchenver¬
mögens da zu ermöglichen, wo sie von einer Gemeinde gefordert werde. Der
erste Versuch, die Trennung der Kirche vom Staate an einem einzelnen, be-
sonders dringlichen Punkte zu vollziehen, ist damit in Würtemberg gescheitert,
und deshalb wird der 22. Dezember 1884 ein Tag von lange nachwirkender
Bedeutung bleiben.




Die Stellung der Polizei im Strafverfahren"
von Otto Gerland.

obere von Mohl, dessen .Klassizität als Zeuge in dem vorliegenden
Thema niemand bezweifeln wird, sagt einmal: "Ohne unmittel¬
bare Stütze und Hilfe der Rechtspflege kann der Bürger mög¬
licherweise sein ganzes Leben ruhig hinbringe", nicht aber eine
Stunde ohne sichtbare Einwirkung der Polizei."'") In dieser ihrer
überall eingreifenden Thätigkeit mag der Grund dafür liegen, daß die Polizei
^' zahlreichen Mißdeutungen ausgesetzt ist; denn natürlich wird der, dem eine
^vlizeiliche Verfügung zugeht, nicht leicht glauben, daß er sich eine Versäumnis
hube zu Schulden kommen lassen, oder daß er gerade verpflichtet sei, den oft
"ut nicht unerheblichen Kosten oder Mühseligkeiten verbundenen Verfügungen



Polizei-Wissenschaft, Auflage. Band >, S. 9, AmiiLMmn, 4.

Die Worte des Kanzlers machten tiefen Eindruck in der Kammer, und alle
die warmen und eindringlichen Worte, welche namentlich vom Ministertisch, von
dem Referenten Freiherrn Wilhelm von Gemmingen und von dem General-
superintendenten von Hall, dem Prälaten Beck, für den Entwurf gesprochen wurden,
konnten ihn nicht rettein Beck fragte den Kanzler, ob denn irgendeine Religions-
genosfenschaft ohne Dogmen bestehen könne, ob nicht selbst der krasseste Unglaube
seine Dogmen habe? ob irgendeine Gemeinschaft ohne Bekenntnis und ohne
alle Zuchtmittel ihren Gliedern gegenüber denkbar sei, und ob die Synodal¬
ordnung nicht gerade in der Kirchenzucht äußerst gemäßigt und vorsichtig sei?
Er berief sich anf die Geschichte und ihre Erfahrungen, auf Nümelins Ansichten
als Minister, auf das gute Recht der evangelischen Kirche auf Autonomie und
Selbstverwaltung; er sprach Stunden lang, so glänzend, so durchdacht, so fein,
daß selbst das Organ der Demokratie ihm volle Anerkennung zollte. Am Ende
wurde, wie gesagt, der Antrag des Kanzlers angenommen und der Negierung
mir anheimgegeben, durch besondres Gesetz die Ausscheidung des Kirchenver¬
mögens da zu ermöglichen, wo sie von einer Gemeinde gefordert werde. Der
erste Versuch, die Trennung der Kirche vom Staate an einem einzelnen, be-
sonders dringlichen Punkte zu vollziehen, ist damit in Würtemberg gescheitert,
und deshalb wird der 22. Dezember 1884 ein Tag von lange nachwirkender
Bedeutung bleiben.




Die Stellung der Polizei im Strafverfahren«
von Otto Gerland.

obere von Mohl, dessen .Klassizität als Zeuge in dem vorliegenden
Thema niemand bezweifeln wird, sagt einmal: „Ohne unmittel¬
bare Stütze und Hilfe der Rechtspflege kann der Bürger mög¬
licherweise sein ganzes Leben ruhig hinbringe», nicht aber eine
Stunde ohne sichtbare Einwirkung der Polizei."'") In dieser ihrer
überall eingreifenden Thätigkeit mag der Grund dafür liegen, daß die Polizei
^' zahlreichen Mißdeutungen ausgesetzt ist; denn natürlich wird der, dem eine
^vlizeiliche Verfügung zugeht, nicht leicht glauben, daß er sich eine Versäumnis
hube zu Schulden kommen lassen, oder daß er gerade verpflichtet sei, den oft
"ut nicht unerheblichen Kosten oder Mühseligkeiten verbundenen Verfügungen



Polizei-Wissenschaft, Auflage. Band >, S. 9, AmiiLMmn, 4.
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[0337] Die Worte des Kanzlers machten tiefen Eindruck in der Kammer, und alle die warmen und eindringlichen Worte, welche namentlich vom Ministertisch, von dem Referenten Freiherrn Wilhelm von Gemmingen und von dem General- superintendenten von Hall, dem Prälaten Beck, für den Entwurf gesprochen wurden, konnten ihn nicht rettein Beck fragte den Kanzler, ob denn irgendeine Religions- genosfenschaft ohne Dogmen bestehen könne, ob nicht selbst der krasseste Unglaube seine Dogmen habe? ob irgendeine Gemeinschaft ohne Bekenntnis und ohne alle Zuchtmittel ihren Gliedern gegenüber denkbar sei, und ob die Synodal¬ ordnung nicht gerade in der Kirchenzucht äußerst gemäßigt und vorsichtig sei? Er berief sich anf die Geschichte und ihre Erfahrungen, auf Nümelins Ansichten als Minister, auf das gute Recht der evangelischen Kirche auf Autonomie und Selbstverwaltung; er sprach Stunden lang, so glänzend, so durchdacht, so fein, daß selbst das Organ der Demokratie ihm volle Anerkennung zollte. Am Ende wurde, wie gesagt, der Antrag des Kanzlers angenommen und der Negierung mir anheimgegeben, durch besondres Gesetz die Ausscheidung des Kirchenver¬ mögens da zu ermöglichen, wo sie von einer Gemeinde gefordert werde. Der erste Versuch, die Trennung der Kirche vom Staate an einem einzelnen, be- sonders dringlichen Punkte zu vollziehen, ist damit in Würtemberg gescheitert, und deshalb wird der 22. Dezember 1884 ein Tag von lange nachwirkender Bedeutung bleiben. Die Stellung der Polizei im Strafverfahren« von Otto Gerland. obere von Mohl, dessen .Klassizität als Zeuge in dem vorliegenden Thema niemand bezweifeln wird, sagt einmal: „Ohne unmittel¬ bare Stütze und Hilfe der Rechtspflege kann der Bürger mög¬ licherweise sein ganzes Leben ruhig hinbringe», nicht aber eine Stunde ohne sichtbare Einwirkung der Polizei."'") In dieser ihrer überall eingreifenden Thätigkeit mag der Grund dafür liegen, daß die Polizei ^' zahlreichen Mißdeutungen ausgesetzt ist; denn natürlich wird der, dem eine ^vlizeiliche Verfügung zugeht, nicht leicht glauben, daß er sich eine Versäumnis hube zu Schulden kommen lassen, oder daß er gerade verpflichtet sei, den oft "ut nicht unerheblichen Kosten oder Mühseligkeiten verbundenen Verfügungen Polizei-Wissenschaft, Auflage. Band >, S. 9, AmiiLMmn, 4.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/337>, abgerufen am 12.11.2024.