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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Die Aoimnilitonen.

Drin im Zimmer erhob Mieder Ratz die Stimme zum "blassen Heinrich,"
welcher dasaß wie einer, der von einer Bergpartie verschmaust. Nun? Dn sagst
ja garnichts? Bist uns doch nicht etwa böse? He? Und dabei streichelte er ihn
unbeholfen und hob ihm das gesenkte Antlitz, wie man mit einem ausgcscholteueu
Kinde thut, das man wieder aufrichten will.

Der Angeredete stand auf, zog seinen Frack an, den weiten Nock darüber,
trat dann an den Tisch der Kommilitonen und sagte: Das eine noch! Wie
muß es mit euerm Mcuschenvcrtrauen aussehen, wenn ihr mich, euern einstigen
Primus, der euch heute bewiesen hat, daß er nicht zurückgeblieben ist, solcher
Verdächtigung aussetzt! Ich bin der Einstige geblieben und ertrage keine un¬
gerechte Zurücksetzung; ich fühle mich außerhalb euers Gesichts- und Gedanken¬
kreises, keineswegs aber unter demselben; ich gehöre nicht mehr zu euch und
ihr, wie ich euch wiedergefunden habe, gehört nicht mehr zu mir. Ich weiß
nicht, seid ihr zu alt geworden oder bin ich zu jung geblieben? Ich brauche
Zutrauen, Liebe, viel Liebe! Ich bin verwöhnt. Laßt mich wieder zu meinen
fünfundzwanzig Jungen gehen!

Damit schritt er aus der Saalthiir und verließ die Verblüfften.

Die beiden Damen vor der Thür hörten die letzten ausdrucksvoll ge¬
sprochenen Worte. Barbara wollte hineinstürmen, um den Abgehenden irgend¬
wie aufzuhalten, eine innere Stimme forderte sie dazu auf, wie wenig auch
dieses Vorgehen sich dem Herkömmlichen angepaßt haben würde.

Aber die Snpcrintendcntiu trat ihrer Absicht entgegen. Was fällt Ihnen
ein, liebes Fräulein? In dieses Strcitgctricbe der Herren dürfen wir uns doch
nicht hineinmengen!

Die in der Stube gebliebenen vier aber saßen da, und der gebrachte Sekt
blieb unberührt. Mirbl, der Parlamentarier, rünsperte sich zum Nedcansatz,
aber es kam kein Laut heraus. Der Schauspieler und der Theologe fingen an,
ein paar Worte zu zischeln; der Parlamentarier und der Offizier erwogen im
Stillen gleichmäßig: Was konnte aus dem alles werden, wenn -- beide be¬
wegten sich eben in den Grenzen ihrer Urteilskraft. Zuletzt sagte der Oberst:
Er hat recht, der "blasse Heinrich." In diesem Augenblicke traten die Damen ein.




7.

Der "blasse Heinrich" hatte den Festsaal hastig durchschritten und ging
rasch über den Marktplatz, wo er sich durch die Kopf an Kopf gedrängten Leute
durcharbeitete. Groß und Klein, Arm und Reich, alles freute sich des hellen
Abends, alles sammelte sich hier und harrte auf Nachrichten, die ans dem Fest¬
saale von Zeit zu Zeit herausgetragen wurden. Die innigste Teilnahme an
dem Schuljubiläum beherrschte noch die Gemüter der Bewohner, die da oben


Die Aoimnilitonen.

Drin im Zimmer erhob Mieder Ratz die Stimme zum „blassen Heinrich,"
welcher dasaß wie einer, der von einer Bergpartie verschmaust. Nun? Dn sagst
ja garnichts? Bist uns doch nicht etwa böse? He? Und dabei streichelte er ihn
unbeholfen und hob ihm das gesenkte Antlitz, wie man mit einem ausgcscholteueu
Kinde thut, das man wieder aufrichten will.

Der Angeredete stand auf, zog seinen Frack an, den weiten Nock darüber,
trat dann an den Tisch der Kommilitonen und sagte: Das eine noch! Wie
muß es mit euerm Mcuschenvcrtrauen aussehen, wenn ihr mich, euern einstigen
Primus, der euch heute bewiesen hat, daß er nicht zurückgeblieben ist, solcher
Verdächtigung aussetzt! Ich bin der Einstige geblieben und ertrage keine un¬
gerechte Zurücksetzung; ich fühle mich außerhalb euers Gesichts- und Gedanken¬
kreises, keineswegs aber unter demselben; ich gehöre nicht mehr zu euch und
ihr, wie ich euch wiedergefunden habe, gehört nicht mehr zu mir. Ich weiß
nicht, seid ihr zu alt geworden oder bin ich zu jung geblieben? Ich brauche
Zutrauen, Liebe, viel Liebe! Ich bin verwöhnt. Laßt mich wieder zu meinen
fünfundzwanzig Jungen gehen!

Damit schritt er aus der Saalthiir und verließ die Verblüfften.

Die beiden Damen vor der Thür hörten die letzten ausdrucksvoll ge¬
sprochenen Worte. Barbara wollte hineinstürmen, um den Abgehenden irgend¬
wie aufzuhalten, eine innere Stimme forderte sie dazu auf, wie wenig auch
dieses Vorgehen sich dem Herkömmlichen angepaßt haben würde.

Aber die Snpcrintendcntiu trat ihrer Absicht entgegen. Was fällt Ihnen
ein, liebes Fräulein? In dieses Strcitgctricbe der Herren dürfen wir uns doch
nicht hineinmengen!

Die in der Stube gebliebenen vier aber saßen da, und der gebrachte Sekt
blieb unberührt. Mirbl, der Parlamentarier, rünsperte sich zum Nedcansatz,
aber es kam kein Laut heraus. Der Schauspieler und der Theologe fingen an,
ein paar Worte zu zischeln; der Parlamentarier und der Offizier erwogen im
Stillen gleichmäßig: Was konnte aus dem alles werden, wenn — beide be¬
wegten sich eben in den Grenzen ihrer Urteilskraft. Zuletzt sagte der Oberst:
Er hat recht, der „blasse Heinrich." In diesem Augenblicke traten die Damen ein.




7.

Der „blasse Heinrich" hatte den Festsaal hastig durchschritten und ging
rasch über den Marktplatz, wo er sich durch die Kopf an Kopf gedrängten Leute
durcharbeitete. Groß und Klein, Arm und Reich, alles freute sich des hellen
Abends, alles sammelte sich hier und harrte auf Nachrichten, die ans dem Fest¬
saale von Zeit zu Zeit herausgetragen wurden. Die innigste Teilnahme an
dem Schuljubiläum beherrschte noch die Gemüter der Bewohner, die da oben


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[0326] Die Aoimnilitonen. Drin im Zimmer erhob Mieder Ratz die Stimme zum „blassen Heinrich," welcher dasaß wie einer, der von einer Bergpartie verschmaust. Nun? Dn sagst ja garnichts? Bist uns doch nicht etwa böse? He? Und dabei streichelte er ihn unbeholfen und hob ihm das gesenkte Antlitz, wie man mit einem ausgcscholteueu Kinde thut, das man wieder aufrichten will. Der Angeredete stand auf, zog seinen Frack an, den weiten Nock darüber, trat dann an den Tisch der Kommilitonen und sagte: Das eine noch! Wie muß es mit euerm Mcuschenvcrtrauen aussehen, wenn ihr mich, euern einstigen Primus, der euch heute bewiesen hat, daß er nicht zurückgeblieben ist, solcher Verdächtigung aussetzt! Ich bin der Einstige geblieben und ertrage keine un¬ gerechte Zurücksetzung; ich fühle mich außerhalb euers Gesichts- und Gedanken¬ kreises, keineswegs aber unter demselben; ich gehöre nicht mehr zu euch und ihr, wie ich euch wiedergefunden habe, gehört nicht mehr zu mir. Ich weiß nicht, seid ihr zu alt geworden oder bin ich zu jung geblieben? Ich brauche Zutrauen, Liebe, viel Liebe! Ich bin verwöhnt. Laßt mich wieder zu meinen fünfundzwanzig Jungen gehen! Damit schritt er aus der Saalthiir und verließ die Verblüfften. Die beiden Damen vor der Thür hörten die letzten ausdrucksvoll ge¬ sprochenen Worte. Barbara wollte hineinstürmen, um den Abgehenden irgend¬ wie aufzuhalten, eine innere Stimme forderte sie dazu auf, wie wenig auch dieses Vorgehen sich dem Herkömmlichen angepaßt haben würde. Aber die Snpcrintendcntiu trat ihrer Absicht entgegen. Was fällt Ihnen ein, liebes Fräulein? In dieses Strcitgctricbe der Herren dürfen wir uns doch nicht hineinmengen! Die in der Stube gebliebenen vier aber saßen da, und der gebrachte Sekt blieb unberührt. Mirbl, der Parlamentarier, rünsperte sich zum Nedcansatz, aber es kam kein Laut heraus. Der Schauspieler und der Theologe fingen an, ein paar Worte zu zischeln; der Parlamentarier und der Offizier erwogen im Stillen gleichmäßig: Was konnte aus dem alles werden, wenn — beide be¬ wegten sich eben in den Grenzen ihrer Urteilskraft. Zuletzt sagte der Oberst: Er hat recht, der „blasse Heinrich." In diesem Augenblicke traten die Damen ein. 7. Der „blasse Heinrich" hatte den Festsaal hastig durchschritten und ging rasch über den Marktplatz, wo er sich durch die Kopf an Kopf gedrängten Leute durcharbeitete. Groß und Klein, Arm und Reich, alles freute sich des hellen Abends, alles sammelte sich hier und harrte auf Nachrichten, die ans dem Fest¬ saale von Zeit zu Zeit herausgetragen wurden. Die innigste Teilnahme an dem Schuljubiläum beherrschte noch die Gemüter der Bewohner, die da oben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/326>, abgerufen am 12.11.2024.