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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Liebe und Anhänglichkeit zum Vaterlande gestärkt. Den neuesten Aufschwung
und Zusammenschluß des Polentums hat nicht zum mindesten die unermüdliche
Thätigkeit seiner Gelehrten, seiner Historiker bewirkt. Möchte doch auch den
Deutschen endlich die Einsicht kommen, daß in ihrer Vergangenheit ein reicher,
unerschöpflicher Born für Unterrichtung und Anregung liegt, und daß ihnen
nichts so sehr nützen kann, als eifrige, hingebende Beschäftigung mit der in
Vorzügen und Fehlern gleich großen und lehrreichen Vergangenheit.



Bissula.

oziale und politische Interessen, zu lebhaften? Kampfe erregt, pflegen
in unsern Tagen eine Fülle packender Gegensätze und stark ge¬
spannter Leidenschaften zu entwickeln, in die ein Dichtertalent nur
hineinzugreifen braucht, um Stoffe von lebendiger "Aktualität"
und nachhaltigster Bedeutung zu gewinnen. Umso wunderlicher
nimmt sich die in den letzten beiden Jahrzehnten aufgetretene Manier aus, bei
Darstellungen romanhafter Begebenheiten nicht sowohl auf historische Stoffe im
allgemeinen, als vielmehr auf jene entlegenen Zeiträume zurückzugreifen, die einer
hellen geschichtlichen Beleuchtung entbehren. An und für sich wäre dabei ja
nicht viel zu erinnern. Der Dichter nimmt seinen Stoff, wo er ihn findet, und
hat, wenn er selbst einmal von ihm begeistert ist, nur noch zu fragen, ob es
technisch möglich sei, aus. dem vorliegenden Rohmaterial ein Kunstwerk zu
gestalten. Im allgemeinen haben Stoffe aus der Vergangenheit gerade gewisse
technische Vorzüge, die zur Ausarbeitung verlocken. Die Fabel ist in ihren
größern Zügen gegeben und besitzt, als wirklich geschehen, diejenige Folgerichtig¬
keit und innere Wahrheit, die freierfundenen Stoffen nur ein großes Talent
zu geben vermag. Charaktere finden sich vor, die, so wie sie waren, nur nach¬
gezeichnet zu werden brauchen. Der ganze seelische Inhalt der handelnden
Personen läßt sich mehr oder weniger deutlich aus den Überlieferungen rekon-
struiren. Der Verlauf der Handlung braucht nicht erst künstlich mit der Zeit
derselben in Einklang gesetzt zu werden, sondern ergiebt sich von selbst. Rechnet
man noch das etwas phantastische Interesse hinzu, mit dem die Leser von vorn¬
herein Gestalten aus der Vergangenheit betrachten, so könnte das alles wohl
einen einleuchtenden Grund für den Verzicht auf den großen Vorteil lebendiger
"Aktualität" abgeben. Aber das alles -- bis auf das letzte, phantastische
Moment -- hört mit der vollen kulturgeschichtlichen Durchsichtigkeit eines Stoffes


Liebe und Anhänglichkeit zum Vaterlande gestärkt. Den neuesten Aufschwung
und Zusammenschluß des Polentums hat nicht zum mindesten die unermüdliche
Thätigkeit seiner Gelehrten, seiner Historiker bewirkt. Möchte doch auch den
Deutschen endlich die Einsicht kommen, daß in ihrer Vergangenheit ein reicher,
unerschöpflicher Born für Unterrichtung und Anregung liegt, und daß ihnen
nichts so sehr nützen kann, als eifrige, hingebende Beschäftigung mit der in
Vorzügen und Fehlern gleich großen und lehrreichen Vergangenheit.



Bissula.

oziale und politische Interessen, zu lebhaften? Kampfe erregt, pflegen
in unsern Tagen eine Fülle packender Gegensätze und stark ge¬
spannter Leidenschaften zu entwickeln, in die ein Dichtertalent nur
hineinzugreifen braucht, um Stoffe von lebendiger „Aktualität"
und nachhaltigster Bedeutung zu gewinnen. Umso wunderlicher
nimmt sich die in den letzten beiden Jahrzehnten aufgetretene Manier aus, bei
Darstellungen romanhafter Begebenheiten nicht sowohl auf historische Stoffe im
allgemeinen, als vielmehr auf jene entlegenen Zeiträume zurückzugreifen, die einer
hellen geschichtlichen Beleuchtung entbehren. An und für sich wäre dabei ja
nicht viel zu erinnern. Der Dichter nimmt seinen Stoff, wo er ihn findet, und
hat, wenn er selbst einmal von ihm begeistert ist, nur noch zu fragen, ob es
technisch möglich sei, aus. dem vorliegenden Rohmaterial ein Kunstwerk zu
gestalten. Im allgemeinen haben Stoffe aus der Vergangenheit gerade gewisse
technische Vorzüge, die zur Ausarbeitung verlocken. Die Fabel ist in ihren
größern Zügen gegeben und besitzt, als wirklich geschehen, diejenige Folgerichtig¬
keit und innere Wahrheit, die freierfundenen Stoffen nur ein großes Talent
zu geben vermag. Charaktere finden sich vor, die, so wie sie waren, nur nach¬
gezeichnet zu werden brauchen. Der ganze seelische Inhalt der handelnden
Personen läßt sich mehr oder weniger deutlich aus den Überlieferungen rekon-
struiren. Der Verlauf der Handlung braucht nicht erst künstlich mit der Zeit
derselben in Einklang gesetzt zu werden, sondern ergiebt sich von selbst. Rechnet
man noch das etwas phantastische Interesse hinzu, mit dem die Leser von vorn¬
herein Gestalten aus der Vergangenheit betrachten, so könnte das alles wohl
einen einleuchtenden Grund für den Verzicht auf den großen Vorteil lebendiger
„Aktualität" abgeben. Aber das alles — bis auf das letzte, phantastische
Moment — hört mit der vollen kulturgeschichtlichen Durchsichtigkeit eines Stoffes


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/100>, abgerufen am 24.08.2024.