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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Gin Lehrbuch der Demagogie.

us ist das Verständnis für den Wechsel der Zeiten abhanden
gekommen, wie anch das Verständnis für das Wesentliche der
Stellung, die eine Volksvertretung einnehmen soll. . . Es ist
wunderbar, mit welcher Leichtigkeit unsre politischen Schriftsteller,
unsre Redner und Gesetzgeber sich jedes tiefern geschichtlichen
Wissens, jeder gründlichen Kenntnis fremder Gesetzgebungen und Staats-
einrichtungen entschlagen. Rhetorik und Logik müssen ihnen alles übrige er¬
setzen. Wenn sie nur Leidenschaften wachzurufen und sich über ihre vermeint¬
lichen Prinzipien geschickt zu verbreiten verstehen, dann verlangt man nichts
weiter von ihnen. Wir ziehen "venig Vorteil aus unsern eignen Erfahrungen,
und was die Erfahrung von andrer Seite her anlangt, so sparen wir uns
die Mühe, sie zu erörtern, weil wir es unter unsrer Würde halten, uns zu
unterrichten. Denn: Seit der j ersten französischen^ Revolution ist nebst dem
Grundsatz, daß selbst die heikelsten Fragen für das Urteilsvermögen unwissender
Leute keine Schwierigkeiten enthalten, auch der Grundsatz bei uns eingebürgert,
daß das Wissen die mindest wertvolle Eigenschaft derer sei, die mit der Leitung
der Menschen zu thun haben. --

Sollte man nicht meinen, das habe ein Deutscher, noch voll von den Ein¬
drücken der letzten Reichstagssessionen und der jüngsten Wahlbewegung, nieder¬
geschrieben? Weisen die Sätze nicht förmlich mit Fingern auf die Dilettanten
in der Politik, die Winkeladvokaten, welche auf der Tribüne und in der Presse
das große Wort führen, und auf ihren gedankenlosen Anhang hin? Auf die
Unheilbaren, denen der Komment von 1848 "das Gesetz und die Propheten"
vorstellt? Aber die Sätze rühren nicht von einem Deutschen her, geschweige
denn, daß sie auf Deutsche berechnet wären. Viel eher ist zu vermuten, der


Grenzboten IV. 1884. SO


Gin Lehrbuch der Demagogie.

us ist das Verständnis für den Wechsel der Zeiten abhanden
gekommen, wie anch das Verständnis für das Wesentliche der
Stellung, die eine Volksvertretung einnehmen soll. . . Es ist
wunderbar, mit welcher Leichtigkeit unsre politischen Schriftsteller,
unsre Redner und Gesetzgeber sich jedes tiefern geschichtlichen
Wissens, jeder gründlichen Kenntnis fremder Gesetzgebungen und Staats-
einrichtungen entschlagen. Rhetorik und Logik müssen ihnen alles übrige er¬
setzen. Wenn sie nur Leidenschaften wachzurufen und sich über ihre vermeint¬
lichen Prinzipien geschickt zu verbreiten verstehen, dann verlangt man nichts
weiter von ihnen. Wir ziehen »venig Vorteil aus unsern eignen Erfahrungen,
und was die Erfahrung von andrer Seite her anlangt, so sparen wir uns
die Mühe, sie zu erörtern, weil wir es unter unsrer Würde halten, uns zu
unterrichten. Denn: Seit der j ersten französischen^ Revolution ist nebst dem
Grundsatz, daß selbst die heikelsten Fragen für das Urteilsvermögen unwissender
Leute keine Schwierigkeiten enthalten, auch der Grundsatz bei uns eingebürgert,
daß das Wissen die mindest wertvolle Eigenschaft derer sei, die mit der Leitung
der Menschen zu thun haben. —

Sollte man nicht meinen, das habe ein Deutscher, noch voll von den Ein¬
drücken der letzten Reichstagssessionen und der jüngsten Wahlbewegung, nieder¬
geschrieben? Weisen die Sätze nicht förmlich mit Fingern auf die Dilettanten
in der Politik, die Winkeladvokaten, welche auf der Tribüne und in der Presse
das große Wort führen, und auf ihren gedankenlosen Anhang hin? Auf die
Unheilbaren, denen der Komment von 1848 „das Gesetz und die Propheten"
vorstellt? Aber die Sätze rühren nicht von einem Deutschen her, geschweige
denn, daß sie auf Deutsche berechnet wären. Viel eher ist zu vermuten, der


Grenzboten IV. 1884. SO
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[0401] [Abbildung] Gin Lehrbuch der Demagogie. us ist das Verständnis für den Wechsel der Zeiten abhanden gekommen, wie anch das Verständnis für das Wesentliche der Stellung, die eine Volksvertretung einnehmen soll. . . Es ist wunderbar, mit welcher Leichtigkeit unsre politischen Schriftsteller, unsre Redner und Gesetzgeber sich jedes tiefern geschichtlichen Wissens, jeder gründlichen Kenntnis fremder Gesetzgebungen und Staats- einrichtungen entschlagen. Rhetorik und Logik müssen ihnen alles übrige er¬ setzen. Wenn sie nur Leidenschaften wachzurufen und sich über ihre vermeint¬ lichen Prinzipien geschickt zu verbreiten verstehen, dann verlangt man nichts weiter von ihnen. Wir ziehen »venig Vorteil aus unsern eignen Erfahrungen, und was die Erfahrung von andrer Seite her anlangt, so sparen wir uns die Mühe, sie zu erörtern, weil wir es unter unsrer Würde halten, uns zu unterrichten. Denn: Seit der j ersten französischen^ Revolution ist nebst dem Grundsatz, daß selbst die heikelsten Fragen für das Urteilsvermögen unwissender Leute keine Schwierigkeiten enthalten, auch der Grundsatz bei uns eingebürgert, daß das Wissen die mindest wertvolle Eigenschaft derer sei, die mit der Leitung der Menschen zu thun haben. — Sollte man nicht meinen, das habe ein Deutscher, noch voll von den Ein¬ drücken der letzten Reichstagssessionen und der jüngsten Wahlbewegung, nieder¬ geschrieben? Weisen die Sätze nicht förmlich mit Fingern auf die Dilettanten in der Politik, die Winkeladvokaten, welche auf der Tribüne und in der Presse das große Wort führen, und auf ihren gedankenlosen Anhang hin? Auf die Unheilbaren, denen der Komment von 1848 „das Gesetz und die Propheten" vorstellt? Aber die Sätze rühren nicht von einem Deutschen her, geschweige denn, daß sie auf Deutsche berechnet wären. Viel eher ist zu vermuten, der Grenzboten IV. 1884. SO

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/401>, abgerufen am 27.12.2024.