Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Literatur.

schonungsloser Gläubiger zu überfallen und zu würgen? Vor einigen Monaten
ist in der Nähe ein älterer Jude mit seiner Frau in der Nacht vom Sonntag
zum Montag erwürgt worden; nichts war aus der Wohnung geraubt; es war
offenbar nur ein Racheakt eines verzweifelten Menschen. Die Angelegenheit kommt
gerade in dieser Woche vor Gericht, und das Resultat der Schwurgerichtsverhand¬
lungen wird bekannt sein, ehe diese Zeilen gedruckt sind. In seltner Ueberein¬
stimmung begegnen sich die Wünsche auch ernst und streng gerichteter Christen,
daß der Verhaftete, der bis jetzt nichts eingestanden hat, freigesprochen werden
möchte. So erbittert und aufgeregt ist das Volk über seine Treiber, daß selbst
sein sittliches Urteil Schaden und Einbuße darunter leidet und es sogar über
Mord und Totschlag milde und den Thäter entschuldigend denkt.

Das sind so einige von den Bannerträgern und Werbern für die Sache des
nationalen Freisinns. In der That -- er kann stolz auf sie sein!




Literatur.
Handbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart in Monographien unter Mit¬
wirkung einer Anzahl von Rechtsgelehrten, herausgegeben von or. Heinrich Marquardsen,
Professor in Erlangen, Mitglied des Reichstags und der baierischen Abgeordnetenkammer.
Freiburg und Tübingen, Akademische Verlagsbuchhandlung von I. C. B. Mohr (Paul Siebeck).

Dies große, auf vier Bände berechnete Unternehmen liegt schon zu einem be¬
trächtlichen Teile vollendet vor. Es war ein glücklicher Gedanke des Herausgebers,
in einzelnen Abhandlungen eine Darstellung des in den Kulturstaaten geltenden
öffentlichen Rechts zu geben. Im Mittelalter hatte auf dem Gebiete des Privat¬
rechts das Liorxus Mils die ideale Einheit unter den Völkern zu vermitteln, das
Staatsrecht dagegen ging weit auseinander. Erst der neueren Zeit war es mit
Einführung der konstitutionellen Staatsform beschieden, auch zu einem öffentlichen
Recht zu gelangen, dessen Grundsätze in einer gewissen Gemeinschaft stehen, aber
trotz alledem den nationalen Charakter bewahren, auf welchem sie erwachsen sind.
Innerhalb des deutschen Reiches hatten wir hauptsächlich nur für das Reichs¬
staatsrecht selbst, sowie für Preußen, Baiern und Würtemberg klassische Werke
aufzuweisen. Das übrige Landesstaatsrecht war selbst für den Berufsmann eine
unbekannte Gegend. Durch die Gründung des deutschen Reiches sind aber auch
die einzelnen Gliedstaaten zu einer großen Bedeutung gelangt, indem sie als Teile
eines großen Ganzen in würdiger Weise sich als selbständige Träger der Staats¬
idee darstellen, was ihnen getrennt vom Ganzen niemals gelungen ist und gelungen
wäre. Deshalb ist auch eine genauere Kenntnis des Landesstaatsrechts in Deutsch¬
land wünschenswert. Außer den Verfassungsurkunden war in den meisten Bundes¬
staaten eine systematische Darstellung nicht vorhanden, es galt also aus dem Rohen
heraus das Einzelne zu gestalten. Nicht minder wichtig erscheint bei der Kultur-
gemeinschaft der Nationen die Kunde ihres öffentlichen Rechts; auch in dieser
Beziehung war man in Deutschland genötigt, an die ausländischen Quellen selbst
zu gehen, da, abgesehen von den berühmten Werken Greises über die englische
Verfassung und Verwaltung, kaum eine nennenswerte Abhandlung existirte. Das


Literatur.

schonungsloser Gläubiger zu überfallen und zu würgen? Vor einigen Monaten
ist in der Nähe ein älterer Jude mit seiner Frau in der Nacht vom Sonntag
zum Montag erwürgt worden; nichts war aus der Wohnung geraubt; es war
offenbar nur ein Racheakt eines verzweifelten Menschen. Die Angelegenheit kommt
gerade in dieser Woche vor Gericht, und das Resultat der Schwurgerichtsverhand¬
lungen wird bekannt sein, ehe diese Zeilen gedruckt sind. In seltner Ueberein¬
stimmung begegnen sich die Wünsche auch ernst und streng gerichteter Christen,
daß der Verhaftete, der bis jetzt nichts eingestanden hat, freigesprochen werden
möchte. So erbittert und aufgeregt ist das Volk über seine Treiber, daß selbst
sein sittliches Urteil Schaden und Einbuße darunter leidet und es sogar über
Mord und Totschlag milde und den Thäter entschuldigend denkt.

Das sind so einige von den Bannerträgern und Werbern für die Sache des
nationalen Freisinns. In der That — er kann stolz auf sie sein!




Literatur.
Handbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart in Monographien unter Mit¬
wirkung einer Anzahl von Rechtsgelehrten, herausgegeben von or. Heinrich Marquardsen,
Professor in Erlangen, Mitglied des Reichstags und der baierischen Abgeordnetenkammer.
Freiburg und Tübingen, Akademische Verlagsbuchhandlung von I. C. B. Mohr (Paul Siebeck).

Dies große, auf vier Bände berechnete Unternehmen liegt schon zu einem be¬
trächtlichen Teile vollendet vor. Es war ein glücklicher Gedanke des Herausgebers,
in einzelnen Abhandlungen eine Darstellung des in den Kulturstaaten geltenden
öffentlichen Rechts zu geben. Im Mittelalter hatte auf dem Gebiete des Privat¬
rechts das Liorxus Mils die ideale Einheit unter den Völkern zu vermitteln, das
Staatsrecht dagegen ging weit auseinander. Erst der neueren Zeit war es mit
Einführung der konstitutionellen Staatsform beschieden, auch zu einem öffentlichen
Recht zu gelangen, dessen Grundsätze in einer gewissen Gemeinschaft stehen, aber
trotz alledem den nationalen Charakter bewahren, auf welchem sie erwachsen sind.
Innerhalb des deutschen Reiches hatten wir hauptsächlich nur für das Reichs¬
staatsrecht selbst, sowie für Preußen, Baiern und Würtemberg klassische Werke
aufzuweisen. Das übrige Landesstaatsrecht war selbst für den Berufsmann eine
unbekannte Gegend. Durch die Gründung des deutschen Reiches sind aber auch
die einzelnen Gliedstaaten zu einer großen Bedeutung gelangt, indem sie als Teile
eines großen Ganzen in würdiger Weise sich als selbständige Träger der Staats¬
idee darstellen, was ihnen getrennt vom Ganzen niemals gelungen ist und gelungen
wäre. Deshalb ist auch eine genauere Kenntnis des Landesstaatsrechts in Deutsch¬
land wünschenswert. Außer den Verfassungsurkunden war in den meisten Bundes¬
staaten eine systematische Darstellung nicht vorhanden, es galt also aus dem Rohen
heraus das Einzelne zu gestalten. Nicht minder wichtig erscheint bei der Kultur-
gemeinschaft der Nationen die Kunde ihres öffentlichen Rechts; auch in dieser
Beziehung war man in Deutschland genötigt, an die ausländischen Quellen selbst
zu gehen, da, abgesehen von den berühmten Werken Greises über die englische
Verfassung und Verwaltung, kaum eine nennenswerte Abhandlung existirte. Das


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0303" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/157228"/>
          <fw type="header" place="top"> Literatur.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1069" prev="#ID_1068"> schonungsloser Gläubiger zu überfallen und zu würgen? Vor einigen Monaten<lb/>
ist in der Nähe ein älterer Jude mit seiner Frau in der Nacht vom Sonntag<lb/>
zum Montag erwürgt worden; nichts war aus der Wohnung geraubt; es war<lb/>
offenbar nur ein Racheakt eines verzweifelten Menschen. Die Angelegenheit kommt<lb/>
gerade in dieser Woche vor Gericht, und das Resultat der Schwurgerichtsverhand¬<lb/>
lungen wird bekannt sein, ehe diese Zeilen gedruckt sind. In seltner Ueberein¬<lb/>
stimmung begegnen sich die Wünsche auch ernst und streng gerichteter Christen,<lb/>
daß der Verhaftete, der bis jetzt nichts eingestanden hat, freigesprochen werden<lb/>
möchte. So erbittert und aufgeregt ist das Volk über seine Treiber, daß selbst<lb/>
sein sittliches Urteil Schaden und Einbuße darunter leidet und es sogar über<lb/>
Mord und Totschlag milde und den Thäter entschuldigend denkt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1070"> Das sind so einige von den Bannerträgern und Werbern für die Sache des<lb/>
nationalen Freisinns.  In der That &#x2014; er kann stolz auf sie sein!</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Literatur.</head><lb/>
          <div n="2">
            <head> Handbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart in Monographien unter Mit¬<lb/>
wirkung einer Anzahl von Rechtsgelehrten, herausgegeben von or. Heinrich Marquardsen,<lb/>
Professor in Erlangen, Mitglied des Reichstags und der baierischen Abgeordnetenkammer.<lb/>
Freiburg und Tübingen, Akademische Verlagsbuchhandlung von I. C. B. Mohr (Paul Siebeck).</head><lb/>
            <p xml:id="ID_1071" next="#ID_1072"> Dies große, auf vier Bände berechnete Unternehmen liegt schon zu einem be¬<lb/>
trächtlichen Teile vollendet vor. Es war ein glücklicher Gedanke des Herausgebers,<lb/>
in einzelnen Abhandlungen eine Darstellung des in den Kulturstaaten geltenden<lb/>
öffentlichen Rechts zu geben. Im Mittelalter hatte auf dem Gebiete des Privat¬<lb/>
rechts das Liorxus Mils die ideale Einheit unter den Völkern zu vermitteln, das<lb/>
Staatsrecht dagegen ging weit auseinander. Erst der neueren Zeit war es mit<lb/>
Einführung der konstitutionellen Staatsform beschieden, auch zu einem öffentlichen<lb/>
Recht zu gelangen, dessen Grundsätze in einer gewissen Gemeinschaft stehen, aber<lb/>
trotz alledem den nationalen Charakter bewahren, auf welchem sie erwachsen sind.<lb/>
Innerhalb des deutschen Reiches hatten wir hauptsächlich nur für das Reichs¬<lb/>
staatsrecht selbst, sowie für Preußen, Baiern und Würtemberg klassische Werke<lb/>
aufzuweisen. Das übrige Landesstaatsrecht war selbst für den Berufsmann eine<lb/>
unbekannte Gegend. Durch die Gründung des deutschen Reiches sind aber auch<lb/>
die einzelnen Gliedstaaten zu einer großen Bedeutung gelangt, indem sie als Teile<lb/>
eines großen Ganzen in würdiger Weise sich als selbständige Träger der Staats¬<lb/>
idee darstellen, was ihnen getrennt vom Ganzen niemals gelungen ist und gelungen<lb/>
wäre. Deshalb ist auch eine genauere Kenntnis des Landesstaatsrechts in Deutsch¬<lb/>
land wünschenswert. Außer den Verfassungsurkunden war in den meisten Bundes¬<lb/>
staaten eine systematische Darstellung nicht vorhanden, es galt also aus dem Rohen<lb/>
heraus das Einzelne zu gestalten. Nicht minder wichtig erscheint bei der Kultur-<lb/>
gemeinschaft der Nationen die Kunde ihres öffentlichen Rechts; auch in dieser<lb/>
Beziehung war man in Deutschland genötigt, an die ausländischen Quellen selbst<lb/>
zu gehen, da, abgesehen von den berühmten Werken Greises über die englische<lb/>
Verfassung und Verwaltung, kaum eine nennenswerte Abhandlung existirte. Das</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0303] Literatur. schonungsloser Gläubiger zu überfallen und zu würgen? Vor einigen Monaten ist in der Nähe ein älterer Jude mit seiner Frau in der Nacht vom Sonntag zum Montag erwürgt worden; nichts war aus der Wohnung geraubt; es war offenbar nur ein Racheakt eines verzweifelten Menschen. Die Angelegenheit kommt gerade in dieser Woche vor Gericht, und das Resultat der Schwurgerichtsverhand¬ lungen wird bekannt sein, ehe diese Zeilen gedruckt sind. In seltner Ueberein¬ stimmung begegnen sich die Wünsche auch ernst und streng gerichteter Christen, daß der Verhaftete, der bis jetzt nichts eingestanden hat, freigesprochen werden möchte. So erbittert und aufgeregt ist das Volk über seine Treiber, daß selbst sein sittliches Urteil Schaden und Einbuße darunter leidet und es sogar über Mord und Totschlag milde und den Thäter entschuldigend denkt. Das sind so einige von den Bannerträgern und Werbern für die Sache des nationalen Freisinns. In der That — er kann stolz auf sie sein! Literatur. Handbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart in Monographien unter Mit¬ wirkung einer Anzahl von Rechtsgelehrten, herausgegeben von or. Heinrich Marquardsen, Professor in Erlangen, Mitglied des Reichstags und der baierischen Abgeordnetenkammer. Freiburg und Tübingen, Akademische Verlagsbuchhandlung von I. C. B. Mohr (Paul Siebeck). Dies große, auf vier Bände berechnete Unternehmen liegt schon zu einem be¬ trächtlichen Teile vollendet vor. Es war ein glücklicher Gedanke des Herausgebers, in einzelnen Abhandlungen eine Darstellung des in den Kulturstaaten geltenden öffentlichen Rechts zu geben. Im Mittelalter hatte auf dem Gebiete des Privat¬ rechts das Liorxus Mils die ideale Einheit unter den Völkern zu vermitteln, das Staatsrecht dagegen ging weit auseinander. Erst der neueren Zeit war es mit Einführung der konstitutionellen Staatsform beschieden, auch zu einem öffentlichen Recht zu gelangen, dessen Grundsätze in einer gewissen Gemeinschaft stehen, aber trotz alledem den nationalen Charakter bewahren, auf welchem sie erwachsen sind. Innerhalb des deutschen Reiches hatten wir hauptsächlich nur für das Reichs¬ staatsrecht selbst, sowie für Preußen, Baiern und Würtemberg klassische Werke aufzuweisen. Das übrige Landesstaatsrecht war selbst für den Berufsmann eine unbekannte Gegend. Durch die Gründung des deutschen Reiches sind aber auch die einzelnen Gliedstaaten zu einer großen Bedeutung gelangt, indem sie als Teile eines großen Ganzen in würdiger Weise sich als selbständige Träger der Staats¬ idee darstellen, was ihnen getrennt vom Ganzen niemals gelungen ist und gelungen wäre. Deshalb ist auch eine genauere Kenntnis des Landesstaatsrechts in Deutsch¬ land wünschenswert. Außer den Verfassungsurkunden war in den meisten Bundes¬ staaten eine systematische Darstellung nicht vorhanden, es galt also aus dem Rohen heraus das Einzelne zu gestalten. Nicht minder wichtig erscheint bei der Kultur- gemeinschaft der Nationen die Kunde ihres öffentlichen Rechts; auch in dieser Beziehung war man in Deutschland genötigt, an die ausländischen Quellen selbst zu gehen, da, abgesehen von den berühmten Werken Greises über die englische Verfassung und Verwaltung, kaum eine nennenswerte Abhandlung existirte. Das

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/303
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/303>, abgerufen am 27.12.2024.