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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Gedanken über Goethe.

Kciroline von Wolzogen hat dies Idealbild ihres einstigen Freundes nicht
ausgeführt, alle Späterlebcndcn haben, wie auch diese Skizze erweist, dem Porträt
Dalbcrgs minder freundliche Züge und grellere Farben leihen müssen, sie können
aber gern zugeben, daß dieser Wiedergabe wie Bildern, die nach Photographien
und nicht nach dem Leben selbst gemalt sind, ein letztes Etwas fehle, das wohl
verdient hätte bewahrt zu bleiben und nun für immer verloren scheint.


Adolf Stern.


Gedanken über Goethe.
Von Victor Hehn.
I.. Naturformen des Menschenlebens.
(Schluß.)

lese Grundzüge des Lebens, habe" wir gesagt, sind bei dem ältesten
wie bei dem jüngsten Dichter dieselben, denn dieselbe Notwendig¬
keit hat sie hervorgebracht. Und dennoch -- durchlaufen wir die
Geschichte, so finden wir sie in langsamem Wechsel begriffen:
gleich der Präzession der Nachtgleichen oder der säkularen Hebung
und Senkung ganzer Kontinente zeigen sich einzelne Teile versunken, andre empor¬
gestiegen. Zwar Nausikaa in der Odyssee ist in Wesen und Benehmen ein Abbild
der Goethischen Mädchen und aller Mädchen, und uns entzückt diese ewig gegenwär¬
tige Wahrheit: wie der weibliche Körper im Gegensatz zum männlichen sich nicht
verändern kann, so wenig kann das Weib seine Bestimmung, der Erhaltung der
Gattung zu dienen, sich zu schmücken und den Mann anzulocken, das Kind zu
nähren, alle Tugenden der Pflege und Sitte zu üben, jemals ablegen. Dennoch
sehen wir das Weib von der ältesten Kultur des Morgenlandes bis auf unsre
Tage oder von Asien bis Amerika in andrer Stellung, ans verschiedner Höhe
gleichsam: bei rohen Völkern ist es das Arbeitstier, im Orient diente es der
sinnlichen Lust; wie anders war die dorische Jungfrau, die attische Hetäre, wie
anders wieder die römische Matrone, dann im Mittelalter das Weib als Him¬
melskönigin oder als Burgfräulein und Gegenstand phantastischer Galanterie!
Und auch die Attribute der Frau, die Technik ihrer Arbeiten -- wie haben sie
sich im Laufe der Jahrhunderte umgestaltet!

So war es ein bedeutungsvoller Fortschritt -- um aus vielen Beispielen nur
dies eine hervorzuheben --, als in der Urzeit die Spindel erfunden worden war,


Gedanken über Goethe.

Kciroline von Wolzogen hat dies Idealbild ihres einstigen Freundes nicht
ausgeführt, alle Späterlebcndcn haben, wie auch diese Skizze erweist, dem Porträt
Dalbcrgs minder freundliche Züge und grellere Farben leihen müssen, sie können
aber gern zugeben, daß dieser Wiedergabe wie Bildern, die nach Photographien
und nicht nach dem Leben selbst gemalt sind, ein letztes Etwas fehle, das wohl
verdient hätte bewahrt zu bleiben und nun für immer verloren scheint.


Adolf Stern.


Gedanken über Goethe.
Von Victor Hehn.
I.. Naturformen des Menschenlebens.
(Schluß.)

lese Grundzüge des Lebens, habe» wir gesagt, sind bei dem ältesten
wie bei dem jüngsten Dichter dieselben, denn dieselbe Notwendig¬
keit hat sie hervorgebracht. Und dennoch — durchlaufen wir die
Geschichte, so finden wir sie in langsamem Wechsel begriffen:
gleich der Präzession der Nachtgleichen oder der säkularen Hebung
und Senkung ganzer Kontinente zeigen sich einzelne Teile versunken, andre empor¬
gestiegen. Zwar Nausikaa in der Odyssee ist in Wesen und Benehmen ein Abbild
der Goethischen Mädchen und aller Mädchen, und uns entzückt diese ewig gegenwär¬
tige Wahrheit: wie der weibliche Körper im Gegensatz zum männlichen sich nicht
verändern kann, so wenig kann das Weib seine Bestimmung, der Erhaltung der
Gattung zu dienen, sich zu schmücken und den Mann anzulocken, das Kind zu
nähren, alle Tugenden der Pflege und Sitte zu üben, jemals ablegen. Dennoch
sehen wir das Weib von der ältesten Kultur des Morgenlandes bis auf unsre
Tage oder von Asien bis Amerika in andrer Stellung, ans verschiedner Höhe
gleichsam: bei rohen Völkern ist es das Arbeitstier, im Orient diente es der
sinnlichen Lust; wie anders war die dorische Jungfrau, die attische Hetäre, wie
anders wieder die römische Matrone, dann im Mittelalter das Weib als Him¬
melskönigin oder als Burgfräulein und Gegenstand phantastischer Galanterie!
Und auch die Attribute der Frau, die Technik ihrer Arbeiten — wie haben sie
sich im Laufe der Jahrhunderte umgestaltet!

So war es ein bedeutungsvoller Fortschritt — um aus vielen Beispielen nur
dies eine hervorzuheben —, als in der Urzeit die Spindel erfunden worden war,


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[0090] Gedanken über Goethe. Kciroline von Wolzogen hat dies Idealbild ihres einstigen Freundes nicht ausgeführt, alle Späterlebcndcn haben, wie auch diese Skizze erweist, dem Porträt Dalbcrgs minder freundliche Züge und grellere Farben leihen müssen, sie können aber gern zugeben, daß dieser Wiedergabe wie Bildern, die nach Photographien und nicht nach dem Leben selbst gemalt sind, ein letztes Etwas fehle, das wohl verdient hätte bewahrt zu bleiben und nun für immer verloren scheint. Adolf Stern. Gedanken über Goethe. Von Victor Hehn. I.. Naturformen des Menschenlebens. (Schluß.) lese Grundzüge des Lebens, habe» wir gesagt, sind bei dem ältesten wie bei dem jüngsten Dichter dieselben, denn dieselbe Notwendig¬ keit hat sie hervorgebracht. Und dennoch — durchlaufen wir die Geschichte, so finden wir sie in langsamem Wechsel begriffen: gleich der Präzession der Nachtgleichen oder der säkularen Hebung und Senkung ganzer Kontinente zeigen sich einzelne Teile versunken, andre empor¬ gestiegen. Zwar Nausikaa in der Odyssee ist in Wesen und Benehmen ein Abbild der Goethischen Mädchen und aller Mädchen, und uns entzückt diese ewig gegenwär¬ tige Wahrheit: wie der weibliche Körper im Gegensatz zum männlichen sich nicht verändern kann, so wenig kann das Weib seine Bestimmung, der Erhaltung der Gattung zu dienen, sich zu schmücken und den Mann anzulocken, das Kind zu nähren, alle Tugenden der Pflege und Sitte zu üben, jemals ablegen. Dennoch sehen wir das Weib von der ältesten Kultur des Morgenlandes bis auf unsre Tage oder von Asien bis Amerika in andrer Stellung, ans verschiedner Höhe gleichsam: bei rohen Völkern ist es das Arbeitstier, im Orient diente es der sinnlichen Lust; wie anders war die dorische Jungfrau, die attische Hetäre, wie anders wieder die römische Matrone, dann im Mittelalter das Weib als Him¬ melskönigin oder als Burgfräulein und Gegenstand phantastischer Galanterie! Und auch die Attribute der Frau, die Technik ihrer Arbeiten — wie haben sie sich im Laufe der Jahrhunderte umgestaltet! So war es ein bedeutungsvoller Fortschritt — um aus vielen Beispielen nur dies eine hervorzuheben —, als in der Urzeit die Spindel erfunden worden war,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/90>, abgerufen am 13.11.2024.