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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Die Entstehung des Faust.

Mitteilung macht eben das Unfertige zum Fertigen und hemmt damit den Prozeß
der Produktion. Das Werden bleibt immerdar Geheimnis, und wer dieses Ge¬
heimnis erleuchten will, verscheucht das Werden.

Aber die Hieroglyphen der Goethischen Äußerungen über den Fortschritt
seiner Dichtung, die nicht nur rätselhaft, sondern auch sparsam sind, bleiben
dennoch unschätzbar. Den lebendigsten Aufschluß über die Entstehung des Ge¬
dichtes muß die aus liebevoller Vertiefung entspringende Divination dem Gedicht
selbst entnehmen. Gelingt es nun dieser Divination, zugleich eine einleuchtende
Deutung der an Schiller gerichteten Hieroglyphen des Dichters darzubieten, so
ist immerhin eine wertvolle Übereinstimmung zwei verschiedenartiger Quellen vor¬
handen, welche der Richtigkeit des Gefundenen eine nicht geringe Wahrscheinlich¬
keit verleiht. Was in den nachfolgenden Abschnitten als gewagte Vermutung
dargeboten werden soll, vermag sich doch, wenigstens für die betreffenden Teile
der Dichtung, nicht bloß auf die Dichtung selbst, sondern daneben auf eine zu¬
lässige, manchmal einleuchtende Auslegung jener Hieroglyphen zu stützen.

Für die innere Entstehung des Gedichtes ist demnach die Hauptquelle das
Gedicht selbst, auch die Gestalt des Fragments von 1790, unterstützt durch die
sonstigen äußern Ursprungsdaten, vorzugsweise aber durch den Schiller-Goethischen
Briefwechsel. Als letzte Quelle ist dann noch eine Reihe mündlicher Äußerungen
des Dichters über den Faust anzuführen, welche Eckermann berichtet.

Es liegt uns nun ob, bevor wir eine zusammengesetzte Hypothese über die
sich nach und nach vollziehende innere Entstehung des Faust vortragen, die ur¬
kundlich beglaubigten Punkte herauszuheben und dann die Fragen zu umschreiben,
welche schon aus der Durchforschung der äußern Daten sich mit Klarheit
ergeben.


I. Die Fragen.

Die Quartausgabe der Goethischen Werke, welche, von Eckermann und
Riemer veranstaltet, im Jahre 1837 erschien, enthielt im Inhaltsverzeichnis
zum erstenmale bei jeder Dichtung eine Angabe der Entstehungszeit und des
ersten Druckes. Beim Faust wurde als Anfang der Entstehung das Jahr 1769
angegeben.

Erinnern wir uns, daß Goethe am 1. September 1768 von Leipzig krank
"ach Frankfurt gekommen war. Das Jahr 1769 wurde mit theosophischen,
kirchen geschichtlichen, alchymistischen, medizinischen Studien ausgefüllt. Es kann
sehr wohl sein, daß in diesem Jahre die alte Puppenspielfabel begonnen hat,
in der alle Keime des Weltverständnisfes und alle Rätsel desselben begierig ein¬
saugenden Seele des Jünglings "vieltvnig zu summen und widerzuklingen."
Die Selbstbiographie des Dichters scheint diese Annahme nur zu bestätigen.
Denn er erzählt uns, wie er, seit dem Frühjahr 1770 zur Fortsetzung der
Studie" in Straßburg sich aufhaltend, namentlich medizinischen Studien ob-


Grmzboten IV 1333. Sö
Die Entstehung des Faust.

Mitteilung macht eben das Unfertige zum Fertigen und hemmt damit den Prozeß
der Produktion. Das Werden bleibt immerdar Geheimnis, und wer dieses Ge¬
heimnis erleuchten will, verscheucht das Werden.

Aber die Hieroglyphen der Goethischen Äußerungen über den Fortschritt
seiner Dichtung, die nicht nur rätselhaft, sondern auch sparsam sind, bleiben
dennoch unschätzbar. Den lebendigsten Aufschluß über die Entstehung des Ge¬
dichtes muß die aus liebevoller Vertiefung entspringende Divination dem Gedicht
selbst entnehmen. Gelingt es nun dieser Divination, zugleich eine einleuchtende
Deutung der an Schiller gerichteten Hieroglyphen des Dichters darzubieten, so
ist immerhin eine wertvolle Übereinstimmung zwei verschiedenartiger Quellen vor¬
handen, welche der Richtigkeit des Gefundenen eine nicht geringe Wahrscheinlich¬
keit verleiht. Was in den nachfolgenden Abschnitten als gewagte Vermutung
dargeboten werden soll, vermag sich doch, wenigstens für die betreffenden Teile
der Dichtung, nicht bloß auf die Dichtung selbst, sondern daneben auf eine zu¬
lässige, manchmal einleuchtende Auslegung jener Hieroglyphen zu stützen.

Für die innere Entstehung des Gedichtes ist demnach die Hauptquelle das
Gedicht selbst, auch die Gestalt des Fragments von 1790, unterstützt durch die
sonstigen äußern Ursprungsdaten, vorzugsweise aber durch den Schiller-Goethischen
Briefwechsel. Als letzte Quelle ist dann noch eine Reihe mündlicher Äußerungen
des Dichters über den Faust anzuführen, welche Eckermann berichtet.

Es liegt uns nun ob, bevor wir eine zusammengesetzte Hypothese über die
sich nach und nach vollziehende innere Entstehung des Faust vortragen, die ur¬
kundlich beglaubigten Punkte herauszuheben und dann die Fragen zu umschreiben,
welche schon aus der Durchforschung der äußern Daten sich mit Klarheit
ergeben.


I. Die Fragen.

Die Quartausgabe der Goethischen Werke, welche, von Eckermann und
Riemer veranstaltet, im Jahre 1837 erschien, enthielt im Inhaltsverzeichnis
zum erstenmale bei jeder Dichtung eine Angabe der Entstehungszeit und des
ersten Druckes. Beim Faust wurde als Anfang der Entstehung das Jahr 1769
angegeben.

Erinnern wir uns, daß Goethe am 1. September 1768 von Leipzig krank
»ach Frankfurt gekommen war. Das Jahr 1769 wurde mit theosophischen,
kirchen geschichtlichen, alchymistischen, medizinischen Studien ausgefüllt. Es kann
sehr wohl sein, daß in diesem Jahre die alte Puppenspielfabel begonnen hat,
in der alle Keime des Weltverständnisfes und alle Rätsel desselben begierig ein¬
saugenden Seele des Jünglings „vieltvnig zu summen und widerzuklingen."
Die Selbstbiographie des Dichters scheint diese Annahme nur zu bestätigen.
Denn er erzählt uns, wie er, seit dem Frühjahr 1770 zur Fortsetzung der
Studie» in Straßburg sich aufhaltend, namentlich medizinischen Studien ob-


Grmzboten IV 1333. Sö
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[0451] Die Entstehung des Faust. Mitteilung macht eben das Unfertige zum Fertigen und hemmt damit den Prozeß der Produktion. Das Werden bleibt immerdar Geheimnis, und wer dieses Ge¬ heimnis erleuchten will, verscheucht das Werden. Aber die Hieroglyphen der Goethischen Äußerungen über den Fortschritt seiner Dichtung, die nicht nur rätselhaft, sondern auch sparsam sind, bleiben dennoch unschätzbar. Den lebendigsten Aufschluß über die Entstehung des Ge¬ dichtes muß die aus liebevoller Vertiefung entspringende Divination dem Gedicht selbst entnehmen. Gelingt es nun dieser Divination, zugleich eine einleuchtende Deutung der an Schiller gerichteten Hieroglyphen des Dichters darzubieten, so ist immerhin eine wertvolle Übereinstimmung zwei verschiedenartiger Quellen vor¬ handen, welche der Richtigkeit des Gefundenen eine nicht geringe Wahrscheinlich¬ keit verleiht. Was in den nachfolgenden Abschnitten als gewagte Vermutung dargeboten werden soll, vermag sich doch, wenigstens für die betreffenden Teile der Dichtung, nicht bloß auf die Dichtung selbst, sondern daneben auf eine zu¬ lässige, manchmal einleuchtende Auslegung jener Hieroglyphen zu stützen. Für die innere Entstehung des Gedichtes ist demnach die Hauptquelle das Gedicht selbst, auch die Gestalt des Fragments von 1790, unterstützt durch die sonstigen äußern Ursprungsdaten, vorzugsweise aber durch den Schiller-Goethischen Briefwechsel. Als letzte Quelle ist dann noch eine Reihe mündlicher Äußerungen des Dichters über den Faust anzuführen, welche Eckermann berichtet. Es liegt uns nun ob, bevor wir eine zusammengesetzte Hypothese über die sich nach und nach vollziehende innere Entstehung des Faust vortragen, die ur¬ kundlich beglaubigten Punkte herauszuheben und dann die Fragen zu umschreiben, welche schon aus der Durchforschung der äußern Daten sich mit Klarheit ergeben. I. Die Fragen. Die Quartausgabe der Goethischen Werke, welche, von Eckermann und Riemer veranstaltet, im Jahre 1837 erschien, enthielt im Inhaltsverzeichnis zum erstenmale bei jeder Dichtung eine Angabe der Entstehungszeit und des ersten Druckes. Beim Faust wurde als Anfang der Entstehung das Jahr 1769 angegeben. Erinnern wir uns, daß Goethe am 1. September 1768 von Leipzig krank »ach Frankfurt gekommen war. Das Jahr 1769 wurde mit theosophischen, kirchen geschichtlichen, alchymistischen, medizinischen Studien ausgefüllt. Es kann sehr wohl sein, daß in diesem Jahre die alte Puppenspielfabel begonnen hat, in der alle Keime des Weltverständnisfes und alle Rätsel desselben begierig ein¬ saugenden Seele des Jünglings „vieltvnig zu summen und widerzuklingen." Die Selbstbiographie des Dichters scheint diese Annahme nur zu bestätigen. Denn er erzählt uns, wie er, seit dem Frühjahr 1770 zur Fortsetzung der Studie» in Straßburg sich aufhaltend, namentlich medizinischen Studien ob- Grmzboten IV 1333. Sö

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/451>, abgerufen am 13.11.2024.