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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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und das Fräulein nicht mehr mit Madam und Mamsell -- wie z. B. in der
"Stella" geschieht und wie auch Mephisto sagt:


Madam, es thut mir herzlich leid.

Das Ihr und Er ist ganz verschwunden, das Sie des Plurals ist alleinherrschend
geworden und geht bis tief in die untersten Schichten hinab. Es ist dies ein
Zeichen der umsichgreifcnden demokratischen Gleichheit, an sich aber eine hä߬
liche, die Sprache und ihren Bau entstellende Wendung, Die Italiener sind
unter spanischem Einfluß zu einer gleichen Unnatur verführt worden: sie sagen
mit dem Femininum der dritten Person des Singulars olla, lei, 1a, 1s -- in
beiden Sprachen gleichsam eine Narbe ans vergangenen unglücklichen Zeiten
und auch hierin, wie in größeren Dingen, ein Parallelismus der Geschicke
beider Völker.




Nochmals Rietschels Lutherkopf.

er um den Wormser Lutherkopf entbrannte Streit, der in der
sächsischen Hauptstadt nun schon seit Monaten die Gemüter be¬
schäftigt, ist insoweit einem Abschlüsse zugeführt worden, als die
Grundlosigkeit der gegen Professor Donndorf vorgebrachten Be¬
schuldigung, daß "auf seinen einseitigen Machtspruch hin" Rietschels
Arbeit an dein Kopfe durch das unvollkommene Werk eines Schülers ersetzt
worden sei, durch vollgiltige Zeugnisse erwiesen worden ist. Damit hat jedoch
der begonnene Streit sein Ende noch nicht erreicht; nur das erwünschte Resultat
ist erzielt worden, daß er von nun an ohne Bitterkeit, ohne den Stachel per¬
sönlicher Anschuldigungen fortgeführt werden kann.

Jedem denkenden Kunstfreunde werden sich die Fragen aufdrängen: Wie
ist es möglich, daß der in Besitz des Herrn Dr. Kietz erhaltene Lutherkopf,
dieses erhabene und unvergleichlich schöne Kunstwerk, dem Wormser Denkmale
verloren ging? Welche Gründe waren schwerwiegend genug, um zu bewirken,
daß Rietschel, der noch am 5, Januar 1861 seinem Freunde Thäter geschrieben
hatte: "Du weißt, wie gern ich liebevoll meine Sachen selbst vollende, nicht eine
Falte aus der Hand gebe," wenige Tage später einen Gehilfen beauftragen und
ermächtigen konnte, an dem Kopfe der Mittelstatne seiner neu entstehenden
Schöpfung Veränderungen vorzunehmen? Sollten wirklich -- uur wider¬
strebend wird der Kundige auch diese Frage zulassen, namentlich dann, wenn
ihm auch persönliche Erinnerungen an den milden und gütige", und doch im


und das Fräulein nicht mehr mit Madam und Mamsell — wie z. B. in der
„Stella" geschieht und wie auch Mephisto sagt:


Madam, es thut mir herzlich leid.

Das Ihr und Er ist ganz verschwunden, das Sie des Plurals ist alleinherrschend
geworden und geht bis tief in die untersten Schichten hinab. Es ist dies ein
Zeichen der umsichgreifcnden demokratischen Gleichheit, an sich aber eine hä߬
liche, die Sprache und ihren Bau entstellende Wendung, Die Italiener sind
unter spanischem Einfluß zu einer gleichen Unnatur verführt worden: sie sagen
mit dem Femininum der dritten Person des Singulars olla, lei, 1a, 1s — in
beiden Sprachen gleichsam eine Narbe ans vergangenen unglücklichen Zeiten
und auch hierin, wie in größeren Dingen, ein Parallelismus der Geschicke
beider Völker.




Nochmals Rietschels Lutherkopf.

er um den Wormser Lutherkopf entbrannte Streit, der in der
sächsischen Hauptstadt nun schon seit Monaten die Gemüter be¬
schäftigt, ist insoweit einem Abschlüsse zugeführt worden, als die
Grundlosigkeit der gegen Professor Donndorf vorgebrachten Be¬
schuldigung, daß „auf seinen einseitigen Machtspruch hin" Rietschels
Arbeit an dein Kopfe durch das unvollkommene Werk eines Schülers ersetzt
worden sei, durch vollgiltige Zeugnisse erwiesen worden ist. Damit hat jedoch
der begonnene Streit sein Ende noch nicht erreicht; nur das erwünschte Resultat
ist erzielt worden, daß er von nun an ohne Bitterkeit, ohne den Stachel per¬
sönlicher Anschuldigungen fortgeführt werden kann.

Jedem denkenden Kunstfreunde werden sich die Fragen aufdrängen: Wie
ist es möglich, daß der in Besitz des Herrn Dr. Kietz erhaltene Lutherkopf,
dieses erhabene und unvergleichlich schöne Kunstwerk, dem Wormser Denkmale
verloren ging? Welche Gründe waren schwerwiegend genug, um zu bewirken,
daß Rietschel, der noch am 5, Januar 1861 seinem Freunde Thäter geschrieben
hatte: „Du weißt, wie gern ich liebevoll meine Sachen selbst vollende, nicht eine
Falte aus der Hand gebe," wenige Tage später einen Gehilfen beauftragen und
ermächtigen konnte, an dem Kopfe der Mittelstatne seiner neu entstehenden
Schöpfung Veränderungen vorzunehmen? Sollten wirklich — uur wider¬
strebend wird der Kundige auch diese Frage zulassen, namentlich dann, wenn
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/319>, abgerufen am 13.11.2024.