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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Die jürstenversammlungen des September.

le gegenwärtigen Beziehungen der europäischen Großmächte zu
einander sind befriedigend, aber für die Zukunft einiger derselben
läßt sich keine Bürgschaft übernehmen, und der Schleier, der diese
Zukunft verhüllt, läßt von Zeit zu Zeit Schatten mit mehr oder
minder deutlichen Umrissen durchscheinen, die zu denken geben.
Die Rache für sedem schläft und träumt nur, ist also keineswegs schon ge¬
storben und begraben, und das Begehren der Moskowiter nach mehr, als der
Berliner Kongreß der Pforte zu nehmen gestattete, zeigt sich auf der Oberfläche
der Welt zwar nur in Gestalt von Zeitungsartikeln, arbeitet aber hörbar unter¬
irdisch. Wenn wir neulich irgendwo lasen, die Völker Europas wohnten im
Schatten einer umgekehrten und auf die Spitze gestellten Pyramide, die jeden
Augenblick nach der oder jener Seite umfallen könnte, so ist das gewiß eine
Übertreibung der Unsicherheit der Lage, aber ebenso gewiß ist, daß die Sicherheit
derselben zu wünschen übrig läßt. In solcher Ungewißheit aber gedeihen die
Hypothesen und Konjekturen der Zeitungspolitiker, die sich scharfblickend zu zeigen
und für Sensation zu sorgen haben, aufs beste. Österreich-Ungarn kann keinen
freundlichen Blick auf das kleine Königreich Serbien werfen, Nußland im Lande
der Bulgaren keinen Finger rühren, ohne daß Auguren dieser Klasse in jeder
Hauptstadt Europas sofort geheimnisvoll die Köpfe schütteln und nach einigem
Erwägen, je nachdem sie gestimmt sind oder hinter ihnen stehende Politiker
souffliren oder Börsenpatrone des Blattes diktiren, optimistische oder pessimistische
Weissagungen in die Druckerei schicken. Monarchen tauschen in einem Bade¬
orte Höflichkeiten aus, ein Minister aus dem Osten besucht einen Kollegen im
Westen, um sich nach seiner Gesundheit zu erkundigen, und kaum hat der Telegraph
das gemeldet, so wird in den Zeitungsbüreaus das "Ereignis" vorgenommen,


Grenzboten IV. 1383. 1


Die jürstenversammlungen des September.

le gegenwärtigen Beziehungen der europäischen Großmächte zu
einander sind befriedigend, aber für die Zukunft einiger derselben
läßt sich keine Bürgschaft übernehmen, und der Schleier, der diese
Zukunft verhüllt, läßt von Zeit zu Zeit Schatten mit mehr oder
minder deutlichen Umrissen durchscheinen, die zu denken geben.
Die Rache für sedem schläft und träumt nur, ist also keineswegs schon ge¬
storben und begraben, und das Begehren der Moskowiter nach mehr, als der
Berliner Kongreß der Pforte zu nehmen gestattete, zeigt sich auf der Oberfläche
der Welt zwar nur in Gestalt von Zeitungsartikeln, arbeitet aber hörbar unter¬
irdisch. Wenn wir neulich irgendwo lasen, die Völker Europas wohnten im
Schatten einer umgekehrten und auf die Spitze gestellten Pyramide, die jeden
Augenblick nach der oder jener Seite umfallen könnte, so ist das gewiß eine
Übertreibung der Unsicherheit der Lage, aber ebenso gewiß ist, daß die Sicherheit
derselben zu wünschen übrig läßt. In solcher Ungewißheit aber gedeihen die
Hypothesen und Konjekturen der Zeitungspolitiker, die sich scharfblickend zu zeigen
und für Sensation zu sorgen haben, aufs beste. Österreich-Ungarn kann keinen
freundlichen Blick auf das kleine Königreich Serbien werfen, Nußland im Lande
der Bulgaren keinen Finger rühren, ohne daß Auguren dieser Klasse in jeder
Hauptstadt Europas sofort geheimnisvoll die Köpfe schütteln und nach einigem
Erwägen, je nachdem sie gestimmt sind oder hinter ihnen stehende Politiker
souffliren oder Börsenpatrone des Blattes diktiren, optimistische oder pessimistische
Weissagungen in die Druckerei schicken. Monarchen tauschen in einem Bade¬
orte Höflichkeiten aus, ein Minister aus dem Osten besucht einen Kollegen im
Westen, um sich nach seiner Gesundheit zu erkundigen, und kaum hat der Telegraph
das gemeldet, so wird in den Zeitungsbüreaus das „Ereignis" vorgenommen,


Grenzboten IV. 1383. 1
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[0011] [Abbildung] Die jürstenversammlungen des September. le gegenwärtigen Beziehungen der europäischen Großmächte zu einander sind befriedigend, aber für die Zukunft einiger derselben läßt sich keine Bürgschaft übernehmen, und der Schleier, der diese Zukunft verhüllt, läßt von Zeit zu Zeit Schatten mit mehr oder minder deutlichen Umrissen durchscheinen, die zu denken geben. Die Rache für sedem schläft und träumt nur, ist also keineswegs schon ge¬ storben und begraben, und das Begehren der Moskowiter nach mehr, als der Berliner Kongreß der Pforte zu nehmen gestattete, zeigt sich auf der Oberfläche der Welt zwar nur in Gestalt von Zeitungsartikeln, arbeitet aber hörbar unter¬ irdisch. Wenn wir neulich irgendwo lasen, die Völker Europas wohnten im Schatten einer umgekehrten und auf die Spitze gestellten Pyramide, die jeden Augenblick nach der oder jener Seite umfallen könnte, so ist das gewiß eine Übertreibung der Unsicherheit der Lage, aber ebenso gewiß ist, daß die Sicherheit derselben zu wünschen übrig läßt. In solcher Ungewißheit aber gedeihen die Hypothesen und Konjekturen der Zeitungspolitiker, die sich scharfblickend zu zeigen und für Sensation zu sorgen haben, aufs beste. Österreich-Ungarn kann keinen freundlichen Blick auf das kleine Königreich Serbien werfen, Nußland im Lande der Bulgaren keinen Finger rühren, ohne daß Auguren dieser Klasse in jeder Hauptstadt Europas sofort geheimnisvoll die Köpfe schütteln und nach einigem Erwägen, je nachdem sie gestimmt sind oder hinter ihnen stehende Politiker souffliren oder Börsenpatrone des Blattes diktiren, optimistische oder pessimistische Weissagungen in die Druckerei schicken. Monarchen tauschen in einem Bade¬ orte Höflichkeiten aus, ein Minister aus dem Osten besucht einen Kollegen im Westen, um sich nach seiner Gesundheit zu erkundigen, und kaum hat der Telegraph das gemeldet, so wird in den Zeitungsbüreaus das „Ereignis" vorgenommen, Grenzboten IV. 1383. 1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/11>, abgerufen am 13.11.2024.