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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Agraria und kein Ende.

le schwere" Fragen, welche das Leben der Völker erschüttern, sind
an das deutsche Volk immer erst in zweiter Linie herangetreten,
waren aber dann umso wirksamer und nachhaltiger. Um diesen
Satz nur mit einigen Beispielen zu belegen, so waren die Kreuz¬
züge von Frankreich angeregt wurden, aber vom deutschen Volke
mit solcher Hingebung ergriffen, daß sie mehr als ein Jahrhundert die ganze
Nation in Bewegung setzten und eine vollständige politische Umwälzung hervor¬
brachten. Die Herrschaft des Papsttums und die Erstarrung der Kirche und
des Glaubens, die Verweltlichung der Religion war in Italien schon von Dante
angegriffen worden und der Kampf der Ideen schon frühzeitig in Savoyen und
England, sowie in Böhmen zu einem wirklichen Aufstand und Krieg über¬
gegangen; aber erst das deutsche Volk hat die Frage vertieft und hat feine
ganze Existenz in der Reformation aufs Spiel gesetzt, um sich für immer in
zwei Lager zu teilen, die lange genug den Nachbarn willkommenen Anlaß boten,
ihre Herrschaft auszuüben. Der Kampf um die politische Freiheit hat -- wenn
wir von England absehen -- schon zwei Menschenalter früher in Frankreich
seine wüstesten Orgien gefeiert, ehe er in Deutschland bekannt war, aber erst
hier wurde er durch ein freies Zusammenwirken von Fürsten und Volk beigelegt,
und während noch heute in Frankreich die Frage nach der Staatsform eine
brennende ist, deren Lösung noch immer eine überraschende sein kann, hat das
deutsche Volk in der konstitutionellen Monarchie, in der Führerschaft seiner Re¬
genten unter thätigem Beirat gewählter Vertreter eine endgiltige Befriedigung
gesunden. Während anderwärts -- und auch hier ist wieder Frankreich das
abschreckende Beispiel -- mit Kanonenkugeln die sozialistischen Extravaganzen
niedergedonnert, wenn auch nicht vernichtet sind, tritt in unsrer Zeit das deutsche
Volk in ernsten Studien und in aufopfernder Arbeit seiner Staatsmänner an
die Lösung des großen Problems heran, welches man die soziale Frage nennt.
Es ist schon oft von diesen Blättern darauf hingewiesen worden, daß namentlich
die sozialen Bestrebungen des Reichskanzlers es waren, welche den sozialen
Studien neue Anregung brachten. Aber freilich, welch ein Unterschied zwischen
den nüchternen, klaren und selbstbewußten Zielen des großen Staatsmannes und
den theoretischen Phantasien! Der Kanzler knüpft in seinen Reformen mit der
echten Weisheit des erhaltenden und fördernden Politikers an das Bestehende,
an die unmittelbar fühlbaren Bedürfnisse der Nation an; er sucht der nationalen
Arbeit Schutz zu verleihen und sie vor der Konkurrenz des Auslandes zu sichern,
er verstaatlicht die Eisenbahnen, um den Verkehr dem Mißbrauch der Kapital-


Agraria und kein Ende.

le schwere» Fragen, welche das Leben der Völker erschüttern, sind
an das deutsche Volk immer erst in zweiter Linie herangetreten,
waren aber dann umso wirksamer und nachhaltiger. Um diesen
Satz nur mit einigen Beispielen zu belegen, so waren die Kreuz¬
züge von Frankreich angeregt wurden, aber vom deutschen Volke
mit solcher Hingebung ergriffen, daß sie mehr als ein Jahrhundert die ganze
Nation in Bewegung setzten und eine vollständige politische Umwälzung hervor¬
brachten. Die Herrschaft des Papsttums und die Erstarrung der Kirche und
des Glaubens, die Verweltlichung der Religion war in Italien schon von Dante
angegriffen worden und der Kampf der Ideen schon frühzeitig in Savoyen und
England, sowie in Böhmen zu einem wirklichen Aufstand und Krieg über¬
gegangen; aber erst das deutsche Volk hat die Frage vertieft und hat feine
ganze Existenz in der Reformation aufs Spiel gesetzt, um sich für immer in
zwei Lager zu teilen, die lange genug den Nachbarn willkommenen Anlaß boten,
ihre Herrschaft auszuüben. Der Kampf um die politische Freiheit hat — wenn
wir von England absehen — schon zwei Menschenalter früher in Frankreich
seine wüstesten Orgien gefeiert, ehe er in Deutschland bekannt war, aber erst
hier wurde er durch ein freies Zusammenwirken von Fürsten und Volk beigelegt,
und während noch heute in Frankreich die Frage nach der Staatsform eine
brennende ist, deren Lösung noch immer eine überraschende sein kann, hat das
deutsche Volk in der konstitutionellen Monarchie, in der Führerschaft seiner Re¬
genten unter thätigem Beirat gewählter Vertreter eine endgiltige Befriedigung
gesunden. Während anderwärts — und auch hier ist wieder Frankreich das
abschreckende Beispiel — mit Kanonenkugeln die sozialistischen Extravaganzen
niedergedonnert, wenn auch nicht vernichtet sind, tritt in unsrer Zeit das deutsche
Volk in ernsten Studien und in aufopfernder Arbeit seiner Staatsmänner an
die Lösung des großen Problems heran, welches man die soziale Frage nennt.
Es ist schon oft von diesen Blättern darauf hingewiesen worden, daß namentlich
die sozialen Bestrebungen des Reichskanzlers es waren, welche den sozialen
Studien neue Anregung brachten. Aber freilich, welch ein Unterschied zwischen
den nüchternen, klaren und selbstbewußten Zielen des großen Staatsmannes und
den theoretischen Phantasien! Der Kanzler knüpft in seinen Reformen mit der
echten Weisheit des erhaltenden und fördernden Politikers an das Bestehende,
an die unmittelbar fühlbaren Bedürfnisse der Nation an; er sucht der nationalen
Arbeit Schutz zu verleihen und sie vor der Konkurrenz des Auslandes zu sichern,
er verstaatlicht die Eisenbahnen, um den Verkehr dem Mißbrauch der Kapital-


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[0109] Agraria und kein Ende. le schwere» Fragen, welche das Leben der Völker erschüttern, sind an das deutsche Volk immer erst in zweiter Linie herangetreten, waren aber dann umso wirksamer und nachhaltiger. Um diesen Satz nur mit einigen Beispielen zu belegen, so waren die Kreuz¬ züge von Frankreich angeregt wurden, aber vom deutschen Volke mit solcher Hingebung ergriffen, daß sie mehr als ein Jahrhundert die ganze Nation in Bewegung setzten und eine vollständige politische Umwälzung hervor¬ brachten. Die Herrschaft des Papsttums und die Erstarrung der Kirche und des Glaubens, die Verweltlichung der Religion war in Italien schon von Dante angegriffen worden und der Kampf der Ideen schon frühzeitig in Savoyen und England, sowie in Böhmen zu einem wirklichen Aufstand und Krieg über¬ gegangen; aber erst das deutsche Volk hat die Frage vertieft und hat feine ganze Existenz in der Reformation aufs Spiel gesetzt, um sich für immer in zwei Lager zu teilen, die lange genug den Nachbarn willkommenen Anlaß boten, ihre Herrschaft auszuüben. Der Kampf um die politische Freiheit hat — wenn wir von England absehen — schon zwei Menschenalter früher in Frankreich seine wüstesten Orgien gefeiert, ehe er in Deutschland bekannt war, aber erst hier wurde er durch ein freies Zusammenwirken von Fürsten und Volk beigelegt, und während noch heute in Frankreich die Frage nach der Staatsform eine brennende ist, deren Lösung noch immer eine überraschende sein kann, hat das deutsche Volk in der konstitutionellen Monarchie, in der Führerschaft seiner Re¬ genten unter thätigem Beirat gewählter Vertreter eine endgiltige Befriedigung gesunden. Während anderwärts — und auch hier ist wieder Frankreich das abschreckende Beispiel — mit Kanonenkugeln die sozialistischen Extravaganzen niedergedonnert, wenn auch nicht vernichtet sind, tritt in unsrer Zeit das deutsche Volk in ernsten Studien und in aufopfernder Arbeit seiner Staatsmänner an die Lösung des großen Problems heran, welches man die soziale Frage nennt. Es ist schon oft von diesen Blättern darauf hingewiesen worden, daß namentlich die sozialen Bestrebungen des Reichskanzlers es waren, welche den sozialen Studien neue Anregung brachten. Aber freilich, welch ein Unterschied zwischen den nüchternen, klaren und selbstbewußten Zielen des großen Staatsmannes und den theoretischen Phantasien! Der Kanzler knüpft in seinen Reformen mit der echten Weisheit des erhaltenden und fördernden Politikers an das Bestehende, an die unmittelbar fühlbaren Bedürfnisse der Nation an; er sucht der nationalen Arbeit Schutz zu verleihen und sie vor der Konkurrenz des Auslandes zu sichern, er verstaatlicht die Eisenbahnen, um den Verkehr dem Mißbrauch der Kapital-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/109>, abgerufen am 13.11.2024.