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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Zum Lutherjubiläum.

s muß über die Lippen: schlecht, sehr schlecht vorbereitet trifft
uns der Tag, an welchem der Geist des Mannes nach aber
hundert Jahren über seine Deutschen Umschau halten will, der
vor vier Jahrhunderten an diesem Tage ins irdische Leben trat.
Er hat die deutsche Seele aus tausend Bauden befreit, mit denen
verruchter Aberglaube sie umschmiedet hatte, unter deren Druck und verderb¬
licher Qual sie sich furchtbar ängstigte. Nach vierhundert Jahren kommt der
Geist des herrlichen Mannes wieder, um zu sehen, wie die tausend Keime ge¬
sunden, schönen, heitern und kräftig-sittlichen Lebens aufgegangen seien, die
er mit unerschöpflichen Reichtum ausgestreut; um zu sehen, ob die deutsche Seele
-- der er die Freiheit gegeben, der er nach allen Richtungen des mit dem
Geiste versöhnten natürlichen Lebens die besten Wege gezeigt -- sich den Körper
eines tüchtigen, wahrhaften, aber niemand schädlichen, sondern allen zum besten
Beispiel dienenden Staats- und Gesellschaftsbaues geschaffen habe.

Und wie findet der Befreier, der Lehrer, der Vorbildner uns wieder?
Den Staat haben wir vor dreizehn Jahren bekommen durch den, in dem wir
eine Nation werden und sein können. Die Gesellschaft, die von diesem Staat
getragen werden, aber auch ihn wieder tragen soll, zeigt noch den Zustand
allseitiger Unfertigkeit, so verworrener, in solchem Widerstreben der TeilL be¬
fangener Unfertigkeit, daß der Zuschauer von Angst befallen werden muß, wer
den Sieg davon tragen wird: die unfertige Gesellschaft über den halbfertigen
Staat, indem sie ihn wieder zerstört, oder der äußerlich hergestellte Staat, indem
er die unverträgliche Gesellschaft zum harmonischen Gefüge zwingt.

Daß aber unsre Gesellschaft so unfertig ist, das liegt doch daran, daß wir
intellektuell so unreif sind. Die Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts hatte


Grenzboten III. 1883. 28


Zum Lutherjubiläum.

s muß über die Lippen: schlecht, sehr schlecht vorbereitet trifft
uns der Tag, an welchem der Geist des Mannes nach aber
hundert Jahren über seine Deutschen Umschau halten will, der
vor vier Jahrhunderten an diesem Tage ins irdische Leben trat.
Er hat die deutsche Seele aus tausend Bauden befreit, mit denen
verruchter Aberglaube sie umschmiedet hatte, unter deren Druck und verderb¬
licher Qual sie sich furchtbar ängstigte. Nach vierhundert Jahren kommt der
Geist des herrlichen Mannes wieder, um zu sehen, wie die tausend Keime ge¬
sunden, schönen, heitern und kräftig-sittlichen Lebens aufgegangen seien, die
er mit unerschöpflichen Reichtum ausgestreut; um zu sehen, ob die deutsche Seele
— der er die Freiheit gegeben, der er nach allen Richtungen des mit dem
Geiste versöhnten natürlichen Lebens die besten Wege gezeigt — sich den Körper
eines tüchtigen, wahrhaften, aber niemand schädlichen, sondern allen zum besten
Beispiel dienenden Staats- und Gesellschaftsbaues geschaffen habe.

Und wie findet der Befreier, der Lehrer, der Vorbildner uns wieder?
Den Staat haben wir vor dreizehn Jahren bekommen durch den, in dem wir
eine Nation werden und sein können. Die Gesellschaft, die von diesem Staat
getragen werden, aber auch ihn wieder tragen soll, zeigt noch den Zustand
allseitiger Unfertigkeit, so verworrener, in solchem Widerstreben der TeilL be¬
fangener Unfertigkeit, daß der Zuschauer von Angst befallen werden muß, wer
den Sieg davon tragen wird: die unfertige Gesellschaft über den halbfertigen
Staat, indem sie ihn wieder zerstört, oder der äußerlich hergestellte Staat, indem
er die unverträgliche Gesellschaft zum harmonischen Gefüge zwingt.

Daß aber unsre Gesellschaft so unfertig ist, das liegt doch daran, daß wir
intellektuell so unreif sind. Die Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts hatte


Grenzboten III. 1883. 28
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[0225] [Abbildung] Zum Lutherjubiläum. s muß über die Lippen: schlecht, sehr schlecht vorbereitet trifft uns der Tag, an welchem der Geist des Mannes nach aber hundert Jahren über seine Deutschen Umschau halten will, der vor vier Jahrhunderten an diesem Tage ins irdische Leben trat. Er hat die deutsche Seele aus tausend Bauden befreit, mit denen verruchter Aberglaube sie umschmiedet hatte, unter deren Druck und verderb¬ licher Qual sie sich furchtbar ängstigte. Nach vierhundert Jahren kommt der Geist des herrlichen Mannes wieder, um zu sehen, wie die tausend Keime ge¬ sunden, schönen, heitern und kräftig-sittlichen Lebens aufgegangen seien, die er mit unerschöpflichen Reichtum ausgestreut; um zu sehen, ob die deutsche Seele — der er die Freiheit gegeben, der er nach allen Richtungen des mit dem Geiste versöhnten natürlichen Lebens die besten Wege gezeigt — sich den Körper eines tüchtigen, wahrhaften, aber niemand schädlichen, sondern allen zum besten Beispiel dienenden Staats- und Gesellschaftsbaues geschaffen habe. Und wie findet der Befreier, der Lehrer, der Vorbildner uns wieder? Den Staat haben wir vor dreizehn Jahren bekommen durch den, in dem wir eine Nation werden und sein können. Die Gesellschaft, die von diesem Staat getragen werden, aber auch ihn wieder tragen soll, zeigt noch den Zustand allseitiger Unfertigkeit, so verworrener, in solchem Widerstreben der TeilL be¬ fangener Unfertigkeit, daß der Zuschauer von Angst befallen werden muß, wer den Sieg davon tragen wird: die unfertige Gesellschaft über den halbfertigen Staat, indem sie ihn wieder zerstört, oder der äußerlich hergestellte Staat, indem er die unverträgliche Gesellschaft zum harmonischen Gefüge zwingt. Daß aber unsre Gesellschaft so unfertig ist, das liegt doch daran, daß wir intellektuell so unreif sind. Die Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts hatte Grenzboten III. 1883. 28

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/225>, abgerufen am 08.09.2024.