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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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Die Erziehung zum Staatsbürger.

eit wir eine deutsche Verfassung und das allgemeine Wahlrecht
haben, ist das, was man politisches Urteil nennt, nicht mehr bloß
für die Regieruugskreise und die obern Klassen der Gesellschaft,
sondern für alle Angehörigen des Reiches unabweisbares Bedürf¬
nis. Der Einzelne muß einen bestimmten politischen Standpunkt
einnehmen, und zwar ans zwingenden Gründen, die er selbst gefunden, und die
Gesammtheit kann nur zu gefunden politischen Verhältnissen gelangen, wenn
jeder weiß, was er will und warum er es will. Die Wähler bestimmen von
Haus aus den Charakter des Organs, mit dem die Regierung nach der Ver¬
fassung zu rechnen und sich zu verständigen hat, und wählen sie einen Reichs¬
tag, dessen Mehrheit oppositionell denkt und abstimmt -- was bei dem Mangel
eignen Urteils die Regel sein wird, da dann keine Kraft zum Widerstande gegen
die Verlockung durch Parteiphrasen vorhanden ist --, so muß der Fortschritt
der Gesetzgebung notwendig ins Stocken geraten. An die Stelle der dem Par¬
lament obliegenden Vermittlung zwischen Volk und Regierung tritt eine sich
steigernde Spannung und ein eifriges Rivalisireu um die Leitung der staatlichen
Gewalt, bei dem an die eigentliche Aufgabe, die Interessen der Gesammtheit in
bestimmten Einzelnheiten wahrzunehmen und zu fördern, wenig oder gnr nicht
mehr gedacht wird -- eine Entwicklung der Dinge, bei der wir in Deutschland
nachgerade angekommen sind.

Das politische Urteil der Wähler darf daher nicht langer als Privatsache
der Einzelnen betrachtet und behandelt werden. Der Staat, die Regierung muß
mehr als bisher in den Stand gesetzt werden, den ihr mittelst der Presse und
mit andern Maschinen Konkurrenz machenden Parteien anch ihrerseits Konkur¬
renz zu machen. Sie darf sich nicht mehr mit offiziöser Aufklärung der Stants-


Greuztwwil I>>, ILL2. 1


Die Erziehung zum Staatsbürger.

eit wir eine deutsche Verfassung und das allgemeine Wahlrecht
haben, ist das, was man politisches Urteil nennt, nicht mehr bloß
für die Regieruugskreise und die obern Klassen der Gesellschaft,
sondern für alle Angehörigen des Reiches unabweisbares Bedürf¬
nis. Der Einzelne muß einen bestimmten politischen Standpunkt
einnehmen, und zwar ans zwingenden Gründen, die er selbst gefunden, und die
Gesammtheit kann nur zu gefunden politischen Verhältnissen gelangen, wenn
jeder weiß, was er will und warum er es will. Die Wähler bestimmen von
Haus aus den Charakter des Organs, mit dem die Regierung nach der Ver¬
fassung zu rechnen und sich zu verständigen hat, und wählen sie einen Reichs¬
tag, dessen Mehrheit oppositionell denkt und abstimmt — was bei dem Mangel
eignen Urteils die Regel sein wird, da dann keine Kraft zum Widerstande gegen
die Verlockung durch Parteiphrasen vorhanden ist —, so muß der Fortschritt
der Gesetzgebung notwendig ins Stocken geraten. An die Stelle der dem Par¬
lament obliegenden Vermittlung zwischen Volk und Regierung tritt eine sich
steigernde Spannung und ein eifriges Rivalisireu um die Leitung der staatlichen
Gewalt, bei dem an die eigentliche Aufgabe, die Interessen der Gesammtheit in
bestimmten Einzelnheiten wahrzunehmen und zu fördern, wenig oder gnr nicht
mehr gedacht wird — eine Entwicklung der Dinge, bei der wir in Deutschland
nachgerade angekommen sind.

Das politische Urteil der Wähler darf daher nicht langer als Privatsache
der Einzelnen betrachtet und behandelt werden. Der Staat, die Regierung muß
mehr als bisher in den Stand gesetzt werden, den ihr mittelst der Presse und
mit andern Maschinen Konkurrenz machenden Parteien anch ihrerseits Konkur¬
renz zu machen. Sie darf sich nicht mehr mit offiziöser Aufklärung der Stants-


Greuztwwil I>>, ILL2. 1
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[0009] [Abbildung] Die Erziehung zum Staatsbürger. eit wir eine deutsche Verfassung und das allgemeine Wahlrecht haben, ist das, was man politisches Urteil nennt, nicht mehr bloß für die Regieruugskreise und die obern Klassen der Gesellschaft, sondern für alle Angehörigen des Reiches unabweisbares Bedürf¬ nis. Der Einzelne muß einen bestimmten politischen Standpunkt einnehmen, und zwar ans zwingenden Gründen, die er selbst gefunden, und die Gesammtheit kann nur zu gefunden politischen Verhältnissen gelangen, wenn jeder weiß, was er will und warum er es will. Die Wähler bestimmen von Haus aus den Charakter des Organs, mit dem die Regierung nach der Ver¬ fassung zu rechnen und sich zu verständigen hat, und wählen sie einen Reichs¬ tag, dessen Mehrheit oppositionell denkt und abstimmt — was bei dem Mangel eignen Urteils die Regel sein wird, da dann keine Kraft zum Widerstande gegen die Verlockung durch Parteiphrasen vorhanden ist —, so muß der Fortschritt der Gesetzgebung notwendig ins Stocken geraten. An die Stelle der dem Par¬ lament obliegenden Vermittlung zwischen Volk und Regierung tritt eine sich steigernde Spannung und ein eifriges Rivalisireu um die Leitung der staatlichen Gewalt, bei dem an die eigentliche Aufgabe, die Interessen der Gesammtheit in bestimmten Einzelnheiten wahrzunehmen und zu fördern, wenig oder gnr nicht mehr gedacht wird — eine Entwicklung der Dinge, bei der wir in Deutschland nachgerade angekommen sind. Das politische Urteil der Wähler darf daher nicht langer als Privatsache der Einzelnen betrachtet und behandelt werden. Der Staat, die Regierung muß mehr als bisher in den Stand gesetzt werden, den ihr mittelst der Presse und mit andern Maschinen Konkurrenz machenden Parteien anch ihrerseits Konkur¬ renz zu machen. Sie darf sich nicht mehr mit offiziöser Aufklärung der Stants- Greuztwwil I>>, ILL2. 1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/9>, abgerufen am 29.06.2024.