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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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gibt, hat mit den Traditionen des Bauernthums seit lange nichts gemein. Auch
in Rußland beginnen die städtische und die städtisch gebildete Bevölkerung allen
bestimmenden Einfluß in sich zu konzentriren. Die Massen aber strömen in
jedes Bett, das ihnen gegraben wird. Jede der inneren Auflösung und Zersetzung
weiter gegönnte Frist vergrößert die Gefahr, und wenn es sich (wie wir er¬
warten) fugen sollte, daß nicht Alexander II., sondern erst der zur Erfüllung
der Volkswünsche im voraus engagirte Erbe seiner Krone die große Reform
unternähme, so ist die Wahrscheinlichkeit, daß diese der Revolution die Thore
G öffnen werde, größer als jede andere."




Das Aomanheloenthum in der Moral.
Von Cuno Stommel

In den Philosophieen aller Völker, speziell in den moralphilosophischen
Systemen, läßt sich das Zusammenbestehen der beiden Urtypen menschlichen
Begreifens und Anschauens, das sensnalistische und das rationalistische (kritische,
idealistische) Moment nachweisen. Der Sensualismus ist, moralphilosophisch
betrachtet, diejenige geistige Disposition, welche durch sinnliche (äußere und
innere) Impulse zum Handeln bestimmt wird. Das Thier handelt nur nach
Instinkten, es ist unfrei; in ihm und aus ihm handelt lediglich die Natur.
Der Mensch würde, wenn dies auch bei ihm der Fall wäre, und wenn seine
Vorzüge vor dem Thiere, Vernunft und Sittlichkeit, den Instinkten, d. h. den
Naturtrieben, durchaus unterlagen, rein sensualistisch handeln. Der Rationa¬
lismus dagegen behauptet, außer den sinnlichen Impulsen noch solche zu kennen,
welche nicht Instinkt, nicht Natur sind, sondern von jenen durchaus ver¬
schieden die menschlichen Handlungen bestimmen. Dies sind die sittlichen Im¬
pulse der Vernunft. Kurz, Sensualismus ist Naturunterthänigkeit, Rationalis¬
mus ist Freiheit.

Der Sensualismus kennt zwar auch sittliche Impulse der Vernunft, aber
diese sind ihm nichts Anderes, als nothwendige Ergebnisse des Naturprozesses
im Organismus, wie denn die Gehirnfunktionen von ihm den gewöhnlichsten
organischen Absonderungsprozessen gleichgestellt werden. Wie im Ganzen der
Natur nothwendige Kausalität, so herrscht auch im menschlichen Körper nichts
Anderes als Nothwendigkeit, Gesetz, Kausalität.

In der Philosophie gelangte diese sensualistische Auffassung sehr bald zu


gibt, hat mit den Traditionen des Bauernthums seit lange nichts gemein. Auch
in Rußland beginnen die städtische und die städtisch gebildete Bevölkerung allen
bestimmenden Einfluß in sich zu konzentriren. Die Massen aber strömen in
jedes Bett, das ihnen gegraben wird. Jede der inneren Auflösung und Zersetzung
weiter gegönnte Frist vergrößert die Gefahr, und wenn es sich (wie wir er¬
warten) fugen sollte, daß nicht Alexander II., sondern erst der zur Erfüllung
der Volkswünsche im voraus engagirte Erbe seiner Krone die große Reform
unternähme, so ist die Wahrscheinlichkeit, daß diese der Revolution die Thore
G öffnen werde, größer als jede andere."




Das Aomanheloenthum in der Moral.
Von Cuno Stommel

In den Philosophieen aller Völker, speziell in den moralphilosophischen
Systemen, läßt sich das Zusammenbestehen der beiden Urtypen menschlichen
Begreifens und Anschauens, das sensnalistische und das rationalistische (kritische,
idealistische) Moment nachweisen. Der Sensualismus ist, moralphilosophisch
betrachtet, diejenige geistige Disposition, welche durch sinnliche (äußere und
innere) Impulse zum Handeln bestimmt wird. Das Thier handelt nur nach
Instinkten, es ist unfrei; in ihm und aus ihm handelt lediglich die Natur.
Der Mensch würde, wenn dies auch bei ihm der Fall wäre, und wenn seine
Vorzüge vor dem Thiere, Vernunft und Sittlichkeit, den Instinkten, d. h. den
Naturtrieben, durchaus unterlagen, rein sensualistisch handeln. Der Rationa¬
lismus dagegen behauptet, außer den sinnlichen Impulsen noch solche zu kennen,
welche nicht Instinkt, nicht Natur sind, sondern von jenen durchaus ver¬
schieden die menschlichen Handlungen bestimmen. Dies sind die sittlichen Im¬
pulse der Vernunft. Kurz, Sensualismus ist Naturunterthänigkeit, Rationalis¬
mus ist Freiheit.

Der Sensualismus kennt zwar auch sittliche Impulse der Vernunft, aber
diese sind ihm nichts Anderes, als nothwendige Ergebnisse des Naturprozesses
im Organismus, wie denn die Gehirnfunktionen von ihm den gewöhnlichsten
organischen Absonderungsprozessen gleichgestellt werden. Wie im Ganzen der
Natur nothwendige Kausalität, so herrscht auch im menschlichen Körper nichts
Anderes als Nothwendigkeit, Gesetz, Kausalität.

In der Philosophie gelangte diese sensualistische Auffassung sehr bald zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/314>, abgerufen am 03.07.2024.