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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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Ale Strafgewal't parlamentarischer Versammlungen.

Der Gesetzentwurf, die Strafgewalt des Reichstages über seine Mitglieder
betreffend, ist abgelehnt worden, und insofern könnte das Folgende verspätet
erscheinen. Indeß, man beschäftigt sich ja mit der Frage, ob den hervorgetre¬
tenen Uebelständen mit einer Abänderung der Geschäftsordnung gesteuert werden
müsse, und sollte das bejaht werden, so wird man zusehen, wie das zu machen
sei. Was dabei herauskommen wird, wissen wir nicht zu errathen. Vermuth¬
lich nicht viel, und dann könnten die mit Halbheiten nicht beseitigten Gefahren
bedingungsloser Redefreiheit und Öffentlichkeit Veranlassung werden, daß der
unlängst begrabene Gesetzentwurf wieder auflebte -- vielleicht in anderer Ge¬
stalt und vielleicht vor einem anderen Reichstage, in welchem die wohlbegrün¬
dete Befürchtung vor Beirrung des öffentlichen Rechtsbewußtseins die weniger
gerechtfertigte Scheu vor Beeinträchtigung des Einflusses der Volksvertretung
auf die Nation überwiegen könnte.

Inzwischen hat die Presse die Pflicht, unbeirrt durch Deklamationen die
Ansichten über die Sache nach Möglichkeit zu klären, und dies geschieht wohl
am besten, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie es mit ihr in anderen parla¬
mentarischen Versammlungen gehalten worden ist und- noch gehalten wird, wo¬
mit ja keineswegs gesagt sein soll, daß wir nachahmen, sondern nnr, daß wir
dem etwaigen Guten, das wir dort finden, uns anpassen sollten. Insofern be¬
grüßen wir eine Schrift Dr. R. Schleiden's: "Die Disciplinar- und
Strafgewalt parlamentarischer Versammlungen über ihre Mit¬
glieder" (Berlin, I. Springer), die uns in diesen Tagen zuging, mit unge¬
lenker Freude, zumal da sie fast ganz objektiv gehalten ist. Langjähriger
Sammlung entsprungen, enthält sie alles Wissenswerthe und darunter sehr viel
Neues in Bezug auf unsern Gegenstand, und so glauben wir den Lesern d. Bl.
einen Dienst zu erweisen, wenn wir ihnen einen ausführlichen Auszug daraus
mittheilen, vor allem aber sie ihnen zum Selbststudium empfehlen.

In England galt die Redefreiheit von jeher für das wichtigste aller
parlamentarischen Rechte. Kein Abgeordneter darf wegen Aeußerungen, die er


Grenzboten II. 187V. 1
Ale Strafgewal't parlamentarischer Versammlungen.

Der Gesetzentwurf, die Strafgewalt des Reichstages über seine Mitglieder
betreffend, ist abgelehnt worden, und insofern könnte das Folgende verspätet
erscheinen. Indeß, man beschäftigt sich ja mit der Frage, ob den hervorgetre¬
tenen Uebelständen mit einer Abänderung der Geschäftsordnung gesteuert werden
müsse, und sollte das bejaht werden, so wird man zusehen, wie das zu machen
sei. Was dabei herauskommen wird, wissen wir nicht zu errathen. Vermuth¬
lich nicht viel, und dann könnten die mit Halbheiten nicht beseitigten Gefahren
bedingungsloser Redefreiheit und Öffentlichkeit Veranlassung werden, daß der
unlängst begrabene Gesetzentwurf wieder auflebte — vielleicht in anderer Ge¬
stalt und vielleicht vor einem anderen Reichstage, in welchem die wohlbegrün¬
dete Befürchtung vor Beirrung des öffentlichen Rechtsbewußtseins die weniger
gerechtfertigte Scheu vor Beeinträchtigung des Einflusses der Volksvertretung
auf die Nation überwiegen könnte.

Inzwischen hat die Presse die Pflicht, unbeirrt durch Deklamationen die
Ansichten über die Sache nach Möglichkeit zu klären, und dies geschieht wohl
am besten, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie es mit ihr in anderen parla¬
mentarischen Versammlungen gehalten worden ist und- noch gehalten wird, wo¬
mit ja keineswegs gesagt sein soll, daß wir nachahmen, sondern nnr, daß wir
dem etwaigen Guten, das wir dort finden, uns anpassen sollten. Insofern be¬
grüßen wir eine Schrift Dr. R. Schleiden's: „Die Disciplinar- und
Strafgewalt parlamentarischer Versammlungen über ihre Mit¬
glieder" (Berlin, I. Springer), die uns in diesen Tagen zuging, mit unge¬
lenker Freude, zumal da sie fast ganz objektiv gehalten ist. Langjähriger
Sammlung entsprungen, enthält sie alles Wissenswerthe und darunter sehr viel
Neues in Bezug auf unsern Gegenstand, und so glauben wir den Lesern d. Bl.
einen Dienst zu erweisen, wenn wir ihnen einen ausführlichen Auszug daraus
mittheilen, vor allem aber sie ihnen zum Selbststudium empfehlen.

In England galt die Redefreiheit von jeher für das wichtigste aller
parlamentarischen Rechte. Kein Abgeordneter darf wegen Aeußerungen, die er


Grenzboten II. 187V. 1
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[0005] Ale Strafgewal't parlamentarischer Versammlungen. Der Gesetzentwurf, die Strafgewalt des Reichstages über seine Mitglieder betreffend, ist abgelehnt worden, und insofern könnte das Folgende verspätet erscheinen. Indeß, man beschäftigt sich ja mit der Frage, ob den hervorgetre¬ tenen Uebelständen mit einer Abänderung der Geschäftsordnung gesteuert werden müsse, und sollte das bejaht werden, so wird man zusehen, wie das zu machen sei. Was dabei herauskommen wird, wissen wir nicht zu errathen. Vermuth¬ lich nicht viel, und dann könnten die mit Halbheiten nicht beseitigten Gefahren bedingungsloser Redefreiheit und Öffentlichkeit Veranlassung werden, daß der unlängst begrabene Gesetzentwurf wieder auflebte — vielleicht in anderer Ge¬ stalt und vielleicht vor einem anderen Reichstage, in welchem die wohlbegrün¬ dete Befürchtung vor Beirrung des öffentlichen Rechtsbewußtseins die weniger gerechtfertigte Scheu vor Beeinträchtigung des Einflusses der Volksvertretung auf die Nation überwiegen könnte. Inzwischen hat die Presse die Pflicht, unbeirrt durch Deklamationen die Ansichten über die Sache nach Möglichkeit zu klären, und dies geschieht wohl am besten, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie es mit ihr in anderen parla¬ mentarischen Versammlungen gehalten worden ist und- noch gehalten wird, wo¬ mit ja keineswegs gesagt sein soll, daß wir nachahmen, sondern nnr, daß wir dem etwaigen Guten, das wir dort finden, uns anpassen sollten. Insofern be¬ grüßen wir eine Schrift Dr. R. Schleiden's: „Die Disciplinar- und Strafgewalt parlamentarischer Versammlungen über ihre Mit¬ glieder" (Berlin, I. Springer), die uns in diesen Tagen zuging, mit unge¬ lenker Freude, zumal da sie fast ganz objektiv gehalten ist. Langjähriger Sammlung entsprungen, enthält sie alles Wissenswerthe und darunter sehr viel Neues in Bezug auf unsern Gegenstand, und so glauben wir den Lesern d. Bl. einen Dienst zu erweisen, wenn wir ihnen einen ausführlichen Auszug daraus mittheilen, vor allem aber sie ihnen zum Selbststudium empfehlen. In England galt die Redefreiheit von jeher für das wichtigste aller parlamentarischen Rechte. Kein Abgeordneter darf wegen Aeußerungen, die er Grenzboten II. 187V. 1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/5>, abgerufen am 27.12.2024.