Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

noch weher gethan als denen, gegen die ihr Haß jahrelang geschürt worden
war. Das einzige wahre und dauerhafte Mittel, die Lebensbedingungen der
arbeitenden Bevölkerungen zu vervollkommnen, ist die friedliche und freie Be¬
wegung, deren Fortgang von selbst zur Erkenntniß führt, daß das Gedeihen
jedes Theils auf dem Gedeihen aller andern beruht. Nicht Hartherzigkeit gegen
die Noth der Schwachen diktirt den Grundsatz, daß keine Staatsweisheit von
oben herab das Loos der Einzelnen aus der Wagschale der Gerechtigkeit aus¬
theilen könne, soudern Einsicht in die Natur des Menschen und seiner Gesit¬
tung. Sie lehrt, daß Zuwachs an freier Bewegung, an Kenntnissen, an Fleiß
und an Gütern in untrennbarer Wechselwirkung stehen und immer mehr allen
Mitgliedern der Gesellschaft zugute kommen. Es ist nicht wahr, daß der
Prozentsatz der Armen und Unglücklichen größer ist als ehedem, nicht wahr,
daß der Gegensatz zwischen arm und reich schroffer, nicht wahr, daß der
Schwache mehr in die Hand des Starken gegeben sei. Nur die größere An-
näherung zwischen allen Schichten der Bevölkerung hat dazu aufgefordert, das,
was sie scheidet, in's Auge zu fassen und als unleidlich anzufechten. Der Ge¬
danke einer mechanischen Ausgleichung aller Schicksale, welcher nicht blos der
ganzen Natur aller Dinge Hohn spricht, sondern auch von einer obsolut falschen
Werthung dessen ausgeht, was menschliches Glück und Unglück ist, enthält das
Nonplusultra der Thorheit, welches aus dem Wege uach seiner Verwirklichung
zu nichts gelangen kann als zur Störung aller gesunden freien Thätigkeit der
einzelnen und der Gesammtheit, daher auch alle rückläufige" Instinkte sich
vom Sozialismus angezogen fühlen. Die sozialistischen Anstrengungen haben
allerdings uicht ganz einseitig Schaden gestiftet, weil es keine absoluten Wahr¬
heiten giebt und jeder Widerspruch auch in seiner Art Dienste leistet. Sie
haben dazu geführt und werden ferner dazu führen, die Gesammtheit und die
Einzelnen in ihrem Verhalten auf den Zusammenhang zwischen wahrem In¬
teresse und wahrer Humanität immer mehr hinzuweisen. Noch wichtiger, als
die Triebfeder der Interessen in Bewegung zu setzen, ist es, die Augen auf
wahre Mißstände zu lenken, denn was man auch sage, nie hat eine Zeit mehr
Empfindlichkeit besessen für jedes Leiden und mehr Bedürfnisse nach Gerechtig¬
keit gefühlt als die unsre!"


Leopold von Ranke, die römischen Päpste in den letzten vier
Jahrhunderten. Siebente Auflage, Text-Ausgabe. Leipzig, Duncker und

Humblot 1878. -- Diese berühmte Schrift des Altmeisters deutscher Geschichts¬
forschung erschien bekanntlich zuerst 1834, seither in sechs Auflagen, von denen
die letzte schon bis zum Vatikanischen Konzil fortgeführt war. Zum ersten
Mal liegt hier eine Ausgabe vor, die sich auf den Text beschränkt, d, h. es


noch weher gethan als denen, gegen die ihr Haß jahrelang geschürt worden
war. Das einzige wahre und dauerhafte Mittel, die Lebensbedingungen der
arbeitenden Bevölkerungen zu vervollkommnen, ist die friedliche und freie Be¬
wegung, deren Fortgang von selbst zur Erkenntniß führt, daß das Gedeihen
jedes Theils auf dem Gedeihen aller andern beruht. Nicht Hartherzigkeit gegen
die Noth der Schwachen diktirt den Grundsatz, daß keine Staatsweisheit von
oben herab das Loos der Einzelnen aus der Wagschale der Gerechtigkeit aus¬
theilen könne, soudern Einsicht in die Natur des Menschen und seiner Gesit¬
tung. Sie lehrt, daß Zuwachs an freier Bewegung, an Kenntnissen, an Fleiß
und an Gütern in untrennbarer Wechselwirkung stehen und immer mehr allen
Mitgliedern der Gesellschaft zugute kommen. Es ist nicht wahr, daß der
Prozentsatz der Armen und Unglücklichen größer ist als ehedem, nicht wahr,
daß der Gegensatz zwischen arm und reich schroffer, nicht wahr, daß der
Schwache mehr in die Hand des Starken gegeben sei. Nur die größere An-
näherung zwischen allen Schichten der Bevölkerung hat dazu aufgefordert, das,
was sie scheidet, in's Auge zu fassen und als unleidlich anzufechten. Der Ge¬
danke einer mechanischen Ausgleichung aller Schicksale, welcher nicht blos der
ganzen Natur aller Dinge Hohn spricht, sondern auch von einer obsolut falschen
Werthung dessen ausgeht, was menschliches Glück und Unglück ist, enthält das
Nonplusultra der Thorheit, welches aus dem Wege uach seiner Verwirklichung
zu nichts gelangen kann als zur Störung aller gesunden freien Thätigkeit der
einzelnen und der Gesammtheit, daher auch alle rückläufige» Instinkte sich
vom Sozialismus angezogen fühlen. Die sozialistischen Anstrengungen haben
allerdings uicht ganz einseitig Schaden gestiftet, weil es keine absoluten Wahr¬
heiten giebt und jeder Widerspruch auch in seiner Art Dienste leistet. Sie
haben dazu geführt und werden ferner dazu führen, die Gesammtheit und die
Einzelnen in ihrem Verhalten auf den Zusammenhang zwischen wahrem In¬
teresse und wahrer Humanität immer mehr hinzuweisen. Noch wichtiger, als
die Triebfeder der Interessen in Bewegung zu setzen, ist es, die Augen auf
wahre Mißstände zu lenken, denn was man auch sage, nie hat eine Zeit mehr
Empfindlichkeit besessen für jedes Leiden und mehr Bedürfnisse nach Gerechtig¬
keit gefühlt als die unsre!"


Leopold von Ranke, die römischen Päpste in den letzten vier
Jahrhunderten. Siebente Auflage, Text-Ausgabe. Leipzig, Duncker und

Humblot 1878. — Diese berühmte Schrift des Altmeisters deutscher Geschichts¬
forschung erschien bekanntlich zuerst 1834, seither in sechs Auflagen, von denen
die letzte schon bis zum Vatikanischen Konzil fortgeführt war. Zum ersten
Mal liegt hier eine Ausgabe vor, die sich auf den Text beschränkt, d, h. es


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0521" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/140342"/>
            <p xml:id="ID_1502" prev="#ID_1501"> noch weher gethan als denen, gegen die ihr Haß jahrelang geschürt worden<lb/>
war.  Das einzige wahre und dauerhafte Mittel, die Lebensbedingungen der<lb/>
arbeitenden Bevölkerungen zu vervollkommnen, ist die friedliche und freie Be¬<lb/>
wegung, deren Fortgang von selbst zur Erkenntniß führt, daß das Gedeihen<lb/>
jedes Theils auf dem Gedeihen aller andern beruht. Nicht Hartherzigkeit gegen<lb/>
die Noth der Schwachen diktirt den Grundsatz, daß keine Staatsweisheit von<lb/>
oben herab das Loos der Einzelnen aus der Wagschale der Gerechtigkeit aus¬<lb/>
theilen könne, soudern Einsicht in die Natur des Menschen und seiner Gesit¬<lb/>
tung. Sie lehrt, daß Zuwachs an freier Bewegung, an Kenntnissen, an Fleiß<lb/>
und an Gütern in untrennbarer Wechselwirkung stehen und immer mehr allen<lb/>
Mitgliedern der Gesellschaft zugute kommen.  Es ist nicht wahr, daß der<lb/>
Prozentsatz der Armen und Unglücklichen größer ist als ehedem, nicht wahr,<lb/>
daß der Gegensatz zwischen arm und reich schroffer, nicht wahr, daß der<lb/>
Schwache mehr in die Hand des Starken gegeben sei. Nur die größere An-<lb/>
näherung zwischen allen Schichten der Bevölkerung hat dazu aufgefordert, das,<lb/>
was sie scheidet, in's Auge zu fassen und als unleidlich anzufechten. Der Ge¬<lb/>
danke einer mechanischen Ausgleichung aller Schicksale, welcher nicht blos der<lb/>
ganzen Natur aller Dinge Hohn spricht, sondern auch von einer obsolut falschen<lb/>
Werthung dessen ausgeht, was menschliches Glück und Unglück ist, enthält das<lb/>
Nonplusultra der Thorheit, welches aus dem Wege uach seiner Verwirklichung<lb/>
zu nichts gelangen kann als zur Störung aller gesunden freien Thätigkeit der<lb/>
einzelnen und der Gesammtheit, daher auch alle rückläufige» Instinkte sich<lb/>
vom Sozialismus angezogen fühlen. Die sozialistischen Anstrengungen haben<lb/>
allerdings uicht ganz einseitig Schaden gestiftet, weil es keine absoluten Wahr¬<lb/>
heiten giebt und jeder Widerspruch auch in seiner Art Dienste leistet. Sie<lb/>
haben dazu geführt und werden ferner dazu führen, die Gesammtheit und die<lb/>
Einzelnen in ihrem Verhalten auf den Zusammenhang zwischen wahrem In¬<lb/>
teresse und wahrer Humanität immer mehr hinzuweisen. Noch wichtiger, als<lb/>
die Triebfeder der Interessen in Bewegung zu setzen, ist es, die Augen auf<lb/>
wahre Mißstände zu lenken, denn was man auch sage, nie hat eine Zeit mehr<lb/>
Empfindlichkeit besessen für jedes Leiden und mehr Bedürfnisse nach Gerechtig¬<lb/>
keit gefühlt als die unsre!"</p><lb/>
          </div>
          <div n="2">
            <head> Leopold von Ranke, die römischen Päpste in den letzten vier<lb/>
Jahrhunderten. Siebente Auflage, Text-Ausgabe. Leipzig, Duncker und</head>
            <p xml:id="ID_1503" next="#ID_1504"> Humblot 1878. &#x2014; Diese berühmte Schrift des Altmeisters deutscher Geschichts¬<lb/>
forschung erschien bekanntlich zuerst 1834, seither in sechs Auflagen, von denen<lb/>
die letzte schon bis zum Vatikanischen Konzil fortgeführt war. Zum ersten<lb/>
Mal liegt hier eine Ausgabe vor, die sich auf den Text beschränkt, d, h. es</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0521] noch weher gethan als denen, gegen die ihr Haß jahrelang geschürt worden war. Das einzige wahre und dauerhafte Mittel, die Lebensbedingungen der arbeitenden Bevölkerungen zu vervollkommnen, ist die friedliche und freie Be¬ wegung, deren Fortgang von selbst zur Erkenntniß führt, daß das Gedeihen jedes Theils auf dem Gedeihen aller andern beruht. Nicht Hartherzigkeit gegen die Noth der Schwachen diktirt den Grundsatz, daß keine Staatsweisheit von oben herab das Loos der Einzelnen aus der Wagschale der Gerechtigkeit aus¬ theilen könne, soudern Einsicht in die Natur des Menschen und seiner Gesit¬ tung. Sie lehrt, daß Zuwachs an freier Bewegung, an Kenntnissen, an Fleiß und an Gütern in untrennbarer Wechselwirkung stehen und immer mehr allen Mitgliedern der Gesellschaft zugute kommen. Es ist nicht wahr, daß der Prozentsatz der Armen und Unglücklichen größer ist als ehedem, nicht wahr, daß der Gegensatz zwischen arm und reich schroffer, nicht wahr, daß der Schwache mehr in die Hand des Starken gegeben sei. Nur die größere An- näherung zwischen allen Schichten der Bevölkerung hat dazu aufgefordert, das, was sie scheidet, in's Auge zu fassen und als unleidlich anzufechten. Der Ge¬ danke einer mechanischen Ausgleichung aller Schicksale, welcher nicht blos der ganzen Natur aller Dinge Hohn spricht, sondern auch von einer obsolut falschen Werthung dessen ausgeht, was menschliches Glück und Unglück ist, enthält das Nonplusultra der Thorheit, welches aus dem Wege uach seiner Verwirklichung zu nichts gelangen kann als zur Störung aller gesunden freien Thätigkeit der einzelnen und der Gesammtheit, daher auch alle rückläufige» Instinkte sich vom Sozialismus angezogen fühlen. Die sozialistischen Anstrengungen haben allerdings uicht ganz einseitig Schaden gestiftet, weil es keine absoluten Wahr¬ heiten giebt und jeder Widerspruch auch in seiner Art Dienste leistet. Sie haben dazu geführt und werden ferner dazu führen, die Gesammtheit und die Einzelnen in ihrem Verhalten auf den Zusammenhang zwischen wahrem In¬ teresse und wahrer Humanität immer mehr hinzuweisen. Noch wichtiger, als die Triebfeder der Interessen in Bewegung zu setzen, ist es, die Augen auf wahre Mißstände zu lenken, denn was man auch sage, nie hat eine Zeit mehr Empfindlichkeit besessen für jedes Leiden und mehr Bedürfnisse nach Gerechtig¬ keit gefühlt als die unsre!" Leopold von Ranke, die römischen Päpste in den letzten vier Jahrhunderten. Siebente Auflage, Text-Ausgabe. Leipzig, Duncker und Humblot 1878. — Diese berühmte Schrift des Altmeisters deutscher Geschichts¬ forschung erschien bekanntlich zuerst 1834, seither in sechs Auflagen, von denen die letzte schon bis zum Vatikanischen Konzil fortgeführt war. Zum ersten Mal liegt hier eine Ausgabe vor, die sich auf den Text beschränkt, d, h. es

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/521
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/521>, abgerufen am 27.07.2024.