Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Arthur Schopenhauer.

Philosophische Systeme, die es darauf absehen, das Weltganze zu erklären
und den Sinn des Lebens zu deuten, haben Bestandtheile in sich, die nur aus
der individuellen Persönlichkeit des Denkers, ans seiner eigenthümlichen Anlage,
der Umgebung, die auf ihn einwirkte, seinem Bildungsgang, seiner Zeit zu be¬
greifen sind. Die exakte philosophische Forschung, die sich auf dem Gebiet des
Beweises und der wissenschaftlichen Kontrole bewegt, ist an feste Schranken ge¬
bunden und Hort da auf, wo die Erfahrung, die äußere und die innere, ver¬
sagt ist. Wenn nun die Spekulation die Lücken ausfüllt, die Grenzen über¬
schreitet, um ein Ganzes, eine Einheit hervor zu bringen, so hat sie dazu aller¬
dings ein gutes Recht und befriedigt ein untilgbares menschliches Bedürfniß,
aber sie leistet damit keine wissenschaftliche Arbeit im engeren Sinne, sondern
betritt den Boden der Phantasie, um hier mit den Bausteinen der Begriffe das
Gebäude, das die Wissenschaft als Torso zurücklassen mußte, zu vollenden. Mit
dieser Auffassung sind wir weit davon entfernt, der Spekulation einen nur sub¬
jektiven Werth zuzuerkennen; es kann ihr allerdings unter gewissen Voraus¬
setzungen nur ein solcher zukommen, aber dies ist keine unbedingte Nothwendig¬
keit. Ertheiler wir nicht anch hervorragenden Erzeugnissen der Dichtung und
Kunst das Prädikat der Wahrheit, weil wir in ihnen ein objektives Bild ge¬
wisser Beziehungen des Lebens, bestimmter Seiten der Wirklichkeit wieder er¬
kennen? Von diesem Gesichtspunkt aus ist es möglich, trotz des Widerspruchs
der verschiedenen spekulativen Systeme mit einander, in jedem objektive Wcchr-
heitselemeute, Beitrüge zum Verständniß des Lebens, zur Deutung des Welt¬
räthsels, zu finden. Und dieselben werden an Werth gewinnen, je gesunder
die denkende Persönlichkeit ist, d. h. je reiner sich in ihr die Welt spiegelt, und
je energischer und schärfer die Begriffsbildung ist, mit welcher sie dies Spiegel¬
bild objektiv zu mache" versteht. Je ungesunder allerdings die denkende Per¬
sönlichkeit ist, d. h. je getrübter sich in ihr die Welt spiegelt, desto mehr wird


Grenzboten II. 1373. 26
Arthur Schopenhauer.

Philosophische Systeme, die es darauf absehen, das Weltganze zu erklären
und den Sinn des Lebens zu deuten, haben Bestandtheile in sich, die nur aus
der individuellen Persönlichkeit des Denkers, ans seiner eigenthümlichen Anlage,
der Umgebung, die auf ihn einwirkte, seinem Bildungsgang, seiner Zeit zu be¬
greifen sind. Die exakte philosophische Forschung, die sich auf dem Gebiet des
Beweises und der wissenschaftlichen Kontrole bewegt, ist an feste Schranken ge¬
bunden und Hort da auf, wo die Erfahrung, die äußere und die innere, ver¬
sagt ist. Wenn nun die Spekulation die Lücken ausfüllt, die Grenzen über¬
schreitet, um ein Ganzes, eine Einheit hervor zu bringen, so hat sie dazu aller¬
dings ein gutes Recht und befriedigt ein untilgbares menschliches Bedürfniß,
aber sie leistet damit keine wissenschaftliche Arbeit im engeren Sinne, sondern
betritt den Boden der Phantasie, um hier mit den Bausteinen der Begriffe das
Gebäude, das die Wissenschaft als Torso zurücklassen mußte, zu vollenden. Mit
dieser Auffassung sind wir weit davon entfernt, der Spekulation einen nur sub¬
jektiven Werth zuzuerkennen; es kann ihr allerdings unter gewissen Voraus¬
setzungen nur ein solcher zukommen, aber dies ist keine unbedingte Nothwendig¬
keit. Ertheiler wir nicht anch hervorragenden Erzeugnissen der Dichtung und
Kunst das Prädikat der Wahrheit, weil wir in ihnen ein objektives Bild ge¬
wisser Beziehungen des Lebens, bestimmter Seiten der Wirklichkeit wieder er¬
kennen? Von diesem Gesichtspunkt aus ist es möglich, trotz des Widerspruchs
der verschiedenen spekulativen Systeme mit einander, in jedem objektive Wcchr-
heitselemeute, Beitrüge zum Verständniß des Lebens, zur Deutung des Welt¬
räthsels, zu finden. Und dieselben werden an Werth gewinnen, je gesunder
die denkende Persönlichkeit ist, d. h. je reiner sich in ihr die Welt spiegelt, und
je energischer und schärfer die Begriffsbildung ist, mit welcher sie dies Spiegel¬
bild objektiv zu mache» versteht. Je ungesunder allerdings die denkende Per¬
sönlichkeit ist, d. h. je getrübter sich in ihr die Welt spiegelt, desto mehr wird


Grenzboten II. 1373. 26
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0205" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/140026"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Arthur Schopenhauer.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_638" next="#ID_639"> Philosophische Systeme, die es darauf absehen, das Weltganze zu erklären<lb/>
und den Sinn des Lebens zu deuten, haben Bestandtheile in sich, die nur aus<lb/>
der individuellen Persönlichkeit des Denkers, ans seiner eigenthümlichen Anlage,<lb/>
der Umgebung, die auf ihn einwirkte, seinem Bildungsgang, seiner Zeit zu be¬<lb/>
greifen sind. Die exakte philosophische Forschung, die sich auf dem Gebiet des<lb/>
Beweises und der wissenschaftlichen Kontrole bewegt, ist an feste Schranken ge¬<lb/>
bunden und Hort da auf, wo die Erfahrung, die äußere und die innere, ver¬<lb/>
sagt ist. Wenn nun die Spekulation die Lücken ausfüllt, die Grenzen über¬<lb/>
schreitet, um ein Ganzes, eine Einheit hervor zu bringen, so hat sie dazu aller¬<lb/>
dings ein gutes Recht und befriedigt ein untilgbares menschliches Bedürfniß,<lb/>
aber sie leistet damit keine wissenschaftliche Arbeit im engeren Sinne, sondern<lb/>
betritt den Boden der Phantasie, um hier mit den Bausteinen der Begriffe das<lb/>
Gebäude, das die Wissenschaft als Torso zurücklassen mußte, zu vollenden. Mit<lb/>
dieser Auffassung sind wir weit davon entfernt, der Spekulation einen nur sub¬<lb/>
jektiven Werth zuzuerkennen; es kann ihr allerdings unter gewissen Voraus¬<lb/>
setzungen nur ein solcher zukommen, aber dies ist keine unbedingte Nothwendig¬<lb/>
keit.  Ertheiler wir nicht anch hervorragenden Erzeugnissen der Dichtung und<lb/>
Kunst das Prädikat der Wahrheit, weil wir in ihnen ein objektives Bild ge¬<lb/>
wisser Beziehungen des Lebens, bestimmter Seiten der Wirklichkeit wieder er¬<lb/>
kennen? Von diesem Gesichtspunkt aus ist es möglich, trotz des Widerspruchs<lb/>
der verschiedenen spekulativen Systeme mit einander, in jedem objektive Wcchr-<lb/>
heitselemeute, Beitrüge zum Verständniß des Lebens, zur Deutung des Welt¬<lb/>
räthsels, zu finden. Und dieselben werden an Werth gewinnen, je gesunder<lb/>
die denkende Persönlichkeit ist, d. h. je reiner sich in ihr die Welt spiegelt, und<lb/>
je energischer und schärfer die Begriffsbildung ist, mit welcher sie dies Spiegel¬<lb/>
bild objektiv zu mache» versteht. Je ungesunder allerdings die denkende Per¬<lb/>
sönlichkeit ist, d. h. je getrübter sich in ihr die Welt spiegelt, desto mehr wird</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II. 1373. 26</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0205] Arthur Schopenhauer. Philosophische Systeme, die es darauf absehen, das Weltganze zu erklären und den Sinn des Lebens zu deuten, haben Bestandtheile in sich, die nur aus der individuellen Persönlichkeit des Denkers, ans seiner eigenthümlichen Anlage, der Umgebung, die auf ihn einwirkte, seinem Bildungsgang, seiner Zeit zu be¬ greifen sind. Die exakte philosophische Forschung, die sich auf dem Gebiet des Beweises und der wissenschaftlichen Kontrole bewegt, ist an feste Schranken ge¬ bunden und Hort da auf, wo die Erfahrung, die äußere und die innere, ver¬ sagt ist. Wenn nun die Spekulation die Lücken ausfüllt, die Grenzen über¬ schreitet, um ein Ganzes, eine Einheit hervor zu bringen, so hat sie dazu aller¬ dings ein gutes Recht und befriedigt ein untilgbares menschliches Bedürfniß, aber sie leistet damit keine wissenschaftliche Arbeit im engeren Sinne, sondern betritt den Boden der Phantasie, um hier mit den Bausteinen der Begriffe das Gebäude, das die Wissenschaft als Torso zurücklassen mußte, zu vollenden. Mit dieser Auffassung sind wir weit davon entfernt, der Spekulation einen nur sub¬ jektiven Werth zuzuerkennen; es kann ihr allerdings unter gewissen Voraus¬ setzungen nur ein solcher zukommen, aber dies ist keine unbedingte Nothwendig¬ keit. Ertheiler wir nicht anch hervorragenden Erzeugnissen der Dichtung und Kunst das Prädikat der Wahrheit, weil wir in ihnen ein objektives Bild ge¬ wisser Beziehungen des Lebens, bestimmter Seiten der Wirklichkeit wieder er¬ kennen? Von diesem Gesichtspunkt aus ist es möglich, trotz des Widerspruchs der verschiedenen spekulativen Systeme mit einander, in jedem objektive Wcchr- heitselemeute, Beitrüge zum Verständniß des Lebens, zur Deutung des Welt¬ räthsels, zu finden. Und dieselben werden an Werth gewinnen, je gesunder die denkende Persönlichkeit ist, d. h. je reiner sich in ihr die Welt spiegelt, und je energischer und schärfer die Begriffsbildung ist, mit welcher sie dies Spiegel¬ bild objektiv zu mache» versteht. Je ungesunder allerdings die denkende Per¬ sönlichkeit ist, d. h. je getrübter sich in ihr die Welt spiegelt, desto mehr wird Grenzboten II. 1373. 26

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/205
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/205>, abgerufen am 28.12.2024.