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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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Lin Kapitel von Urgreisen.

Zu der Zeit, wo das Wünschen noch half, da war eine Frau, die war
frisch und uttlnter, gesund und stark, mochte gern essen und trinken und hatte
alles, was ihr Herz begehrte. Weil das nun so mit ihr stand, so wünschte
sie sich ewig zu leben. Bis zu hundert Jahren ging das auch ganz gut, als
sie aber die hundert erreicht hatte, da fing sie an zusammenzukriechen, und das
nahm mit der Zeit so zu, daß sie nicht mehr gehen und stehen, essen und
trinken konnte, und sterben konnte fie auch nicht. Die Menschen mußten sie
drehen und werden und ihr was zu essen geben, als wenn sie ein kleines Kind
wäre. Es kam zuletzt soweit, daß fie sich nur dann und wann noch bewegte.
Da dachten die Leute, es wäre an: besten, wenn man sie mit den Füßen voran
hinaustrüge, weil aber noch Leben in ihr war, so thaten sie sie in ein Glas
und hingen sie in der Kirche aus. Sie hängt jetzt in der Lübeker Marienkirche,
und sie ist jetzt so klein wie eine Maus und bewegt sich nur alle Jahre
einmal.

In dieser Sage prägt sich das Gefühl des Volkes aus, daß es kein Glück
ist, wenn der Mensch über eine gewisse Zeit hinaus das Leben behält, und
daß somit der Wunsch darnach thöricht ist. Ohne Zweifel ist aber das ent¬
gegengesetzte Gefühl und das Begehren, so lange wie möglich die Sonne zu
sehen, verbreiteter, und zwar, wie wir glauben, auch unter denen, welche über¬
zeugt sind, daß das Wort "Nors ^ura vieil-e" eine Wahrheit ist. Die Fabel
vom Bettler an Krücken, der den Tod rust, ihn zu holen, und der, als er kommt,
die Krücken wegwirft und eilig davonläuft, gründet sich auf eine Erfahrung,
die wir alle Tage machen können. Die Liebe zum Leben und die Furcht vor
dem Tode ist das natürlichste aller Gefühle. Ohne sie wäre die Tapferkeit,
die sie um höherer Zwecke willen überwindet, keine Tugend, der Held kein Held,
der Märtyrer kein Märtyrer. Gewiß ist das Leben der Güter höchstes nicht,
aber zu allen Zeiten und uuter allen Völkern hat gesunde Empfindung ein


Grenzboten I. 1877. M
Lin Kapitel von Urgreisen.

Zu der Zeit, wo das Wünschen noch half, da war eine Frau, die war
frisch und uttlnter, gesund und stark, mochte gern essen und trinken und hatte
alles, was ihr Herz begehrte. Weil das nun so mit ihr stand, so wünschte
sie sich ewig zu leben. Bis zu hundert Jahren ging das auch ganz gut, als
sie aber die hundert erreicht hatte, da fing sie an zusammenzukriechen, und das
nahm mit der Zeit so zu, daß sie nicht mehr gehen und stehen, essen und
trinken konnte, und sterben konnte fie auch nicht. Die Menschen mußten sie
drehen und werden und ihr was zu essen geben, als wenn sie ein kleines Kind
wäre. Es kam zuletzt soweit, daß fie sich nur dann und wann noch bewegte.
Da dachten die Leute, es wäre an: besten, wenn man sie mit den Füßen voran
hinaustrüge, weil aber noch Leben in ihr war, so thaten sie sie in ein Glas
und hingen sie in der Kirche aus. Sie hängt jetzt in der Lübeker Marienkirche,
und sie ist jetzt so klein wie eine Maus und bewegt sich nur alle Jahre
einmal.

In dieser Sage prägt sich das Gefühl des Volkes aus, daß es kein Glück
ist, wenn der Mensch über eine gewisse Zeit hinaus das Leben behält, und
daß somit der Wunsch darnach thöricht ist. Ohne Zweifel ist aber das ent¬
gegengesetzte Gefühl und das Begehren, so lange wie möglich die Sonne zu
sehen, verbreiteter, und zwar, wie wir glauben, auch unter denen, welche über¬
zeugt sind, daß das Wort „Nors ^ura vieil-e" eine Wahrheit ist. Die Fabel
vom Bettler an Krücken, der den Tod rust, ihn zu holen, und der, als er kommt,
die Krücken wegwirft und eilig davonläuft, gründet sich auf eine Erfahrung,
die wir alle Tage machen können. Die Liebe zum Leben und die Furcht vor
dem Tode ist das natürlichste aller Gefühle. Ohne sie wäre die Tapferkeit,
die sie um höherer Zwecke willen überwindet, keine Tugend, der Held kein Held,
der Märtyrer kein Märtyrer. Gewiß ist das Leben der Güter höchstes nicht,
aber zu allen Zeiten und uuter allen Völkern hat gesunde Empfindung ein


Grenzboten I. 1877. M
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[0289] Lin Kapitel von Urgreisen. Zu der Zeit, wo das Wünschen noch half, da war eine Frau, die war frisch und uttlnter, gesund und stark, mochte gern essen und trinken und hatte alles, was ihr Herz begehrte. Weil das nun so mit ihr stand, so wünschte sie sich ewig zu leben. Bis zu hundert Jahren ging das auch ganz gut, als sie aber die hundert erreicht hatte, da fing sie an zusammenzukriechen, und das nahm mit der Zeit so zu, daß sie nicht mehr gehen und stehen, essen und trinken konnte, und sterben konnte fie auch nicht. Die Menschen mußten sie drehen und werden und ihr was zu essen geben, als wenn sie ein kleines Kind wäre. Es kam zuletzt soweit, daß fie sich nur dann und wann noch bewegte. Da dachten die Leute, es wäre an: besten, wenn man sie mit den Füßen voran hinaustrüge, weil aber noch Leben in ihr war, so thaten sie sie in ein Glas und hingen sie in der Kirche aus. Sie hängt jetzt in der Lübeker Marienkirche, und sie ist jetzt so klein wie eine Maus und bewegt sich nur alle Jahre einmal. In dieser Sage prägt sich das Gefühl des Volkes aus, daß es kein Glück ist, wenn der Mensch über eine gewisse Zeit hinaus das Leben behält, und daß somit der Wunsch darnach thöricht ist. Ohne Zweifel ist aber das ent¬ gegengesetzte Gefühl und das Begehren, so lange wie möglich die Sonne zu sehen, verbreiteter, und zwar, wie wir glauben, auch unter denen, welche über¬ zeugt sind, daß das Wort „Nors ^ura vieil-e" eine Wahrheit ist. Die Fabel vom Bettler an Krücken, der den Tod rust, ihn zu holen, und der, als er kommt, die Krücken wegwirft und eilig davonläuft, gründet sich auf eine Erfahrung, die wir alle Tage machen können. Die Liebe zum Leben und die Furcht vor dem Tode ist das natürlichste aller Gefühle. Ohne sie wäre die Tapferkeit, die sie um höherer Zwecke willen überwindet, keine Tugend, der Held kein Held, der Märtyrer kein Märtyrer. Gewiß ist das Leben der Güter höchstes nicht, aber zu allen Zeiten und uuter allen Völkern hat gesunde Empfindung ein Grenzboten I. 1877. M

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/289>, abgerufen am 23.07.2024.