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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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heit für Abessinien, sich der so plötzlich erschienenen ägyptischen Uebermacht,
die sie schließlich selbst bedrohte, mit Glück zu erwehren. Es ist zweifellos,
daß, wenn die beiden Staaten Amhara und Tigre mit aller Macht den kämpfen¬
den Sudanesen zu Hilfe geeilt wären, Aegypten gezwungen worden wäre, den
Sudan zu räumen. Ob für den Letzteren eine solche Unabhängigkeit ein Glück
gewesen wäre, ist freilich mehr wie zweifelhaft; denn die inneren Fehden und
die allgemeine Unsicherheit würden sofort wieder Platz gegriffen haben; die mit
manchen unnöthigen Grausamkeiten verknüpfte ägyptische Herrschaft hat doch
wenigstens Sicherheit und Ruhe geschaffen und der europäischen Kultur den
Weg nach dem Innern gebahnt. Daß Abessinien den richtigen Augenblick
nicht benutzte, hat eine Reihe von Gründen, von denen, meines Erachtens,
die Folgenden am wichtigsten sind. Zunächst war zur Zeit der türkischen
oder ägyptischen Einfälle im Sudan Abessinien kein einheitlicher Staat mehr
und nur noch ein trauriger Schatten seiner früheren Macht und Größe-
Factisch bestand das Land aus drei Reichen. Amhara, Tigre und Schoa, die
sich von Zeit zu Zeit bekämpften und von einem Interesse, das sie gegen
einen äußeren Feind einig machen sollte, keine Ahnung hatten. Im Innern
der drei Reiche herrschte fortwährend und herrscht heute noch Raub und Fehde
von einem Stamm gegen den anderen, einer Landschaft gegen die andere,
Zänkereien, die ein gemeinsames Wirken unmöglich machten. Dann hatten
die Abessinier von der sie bedrohenden Gefahr wirklich keine Ahnung, ihre
Vorstellungen von der außerabessinischen Welt sind so mangelhaft und dabei
so voll übertriebener Selbstgefälligkeit und Eitelkeit, daß es ihnen nicht im
Entferntesten einfiel, es könne der Tag kommen, wo das Land "Aethiopia"
von einem äußeren Feinde bedroht würde. Glaubt doch heute noch jeder
Abessinier fest, daß sein Volk bestimmt sei , den Muhamedanismus zu ver¬
tilgen, Mekka und Medina zu zerstören und die Türken aus Jerusalem zu
vertreiben. Zudem ging der erste Stoß der Aegypter nicht direct gegen die
abessinische Grenze; ihr Eroberungszug folgte natürlich dem Laufe des Nil,
von da nach Kordofan, später nach dem Atbara und Taka, wo namentlich
die Hadendoa sich mit der größten Ausdauer wehrten.

Sennaar und der blaue Nil folgten erst später und nach und nach die
heidnischen Negerstämme bis zur Grenze von Amhara. Da jedoch diese
Stämme, bekannt unter dem Collectivnamen der Schangalla auch fortwährend
mit den Abessiniern in Fehde standen, so bildete ihr Land eine Art neutralen
Gebiets, das eine unmittelbare Berührung der beiden Concurrenten verhinderte.
Als schließlich auch dieses Gebiet von den Aegyptern unterworfen wurde, hatte
sich ihre Herrschaft bereits so befestigt, daß sie ein feindseliges Auftreten der
Abessinier nicht zu fürchten brauchten und sogar darauf ausgehen konnten,
einige auch von Abessinien beanspruchten Ländertheile, nach und nach zu


I

heit für Abessinien, sich der so plötzlich erschienenen ägyptischen Uebermacht,
die sie schließlich selbst bedrohte, mit Glück zu erwehren. Es ist zweifellos,
daß, wenn die beiden Staaten Amhara und Tigre mit aller Macht den kämpfen¬
den Sudanesen zu Hilfe geeilt wären, Aegypten gezwungen worden wäre, den
Sudan zu räumen. Ob für den Letzteren eine solche Unabhängigkeit ein Glück
gewesen wäre, ist freilich mehr wie zweifelhaft; denn die inneren Fehden und
die allgemeine Unsicherheit würden sofort wieder Platz gegriffen haben; die mit
manchen unnöthigen Grausamkeiten verknüpfte ägyptische Herrschaft hat doch
wenigstens Sicherheit und Ruhe geschaffen und der europäischen Kultur den
Weg nach dem Innern gebahnt. Daß Abessinien den richtigen Augenblick
nicht benutzte, hat eine Reihe von Gründen, von denen, meines Erachtens,
die Folgenden am wichtigsten sind. Zunächst war zur Zeit der türkischen
oder ägyptischen Einfälle im Sudan Abessinien kein einheitlicher Staat mehr
und nur noch ein trauriger Schatten seiner früheren Macht und Größe-
Factisch bestand das Land aus drei Reichen. Amhara, Tigre und Schoa, die
sich von Zeit zu Zeit bekämpften und von einem Interesse, das sie gegen
einen äußeren Feind einig machen sollte, keine Ahnung hatten. Im Innern
der drei Reiche herrschte fortwährend und herrscht heute noch Raub und Fehde
von einem Stamm gegen den anderen, einer Landschaft gegen die andere,
Zänkereien, die ein gemeinsames Wirken unmöglich machten. Dann hatten
die Abessinier von der sie bedrohenden Gefahr wirklich keine Ahnung, ihre
Vorstellungen von der außerabessinischen Welt sind so mangelhaft und dabei
so voll übertriebener Selbstgefälligkeit und Eitelkeit, daß es ihnen nicht im
Entferntesten einfiel, es könne der Tag kommen, wo das Land „Aethiopia"
von einem äußeren Feinde bedroht würde. Glaubt doch heute noch jeder
Abessinier fest, daß sein Volk bestimmt sei , den Muhamedanismus zu ver¬
tilgen, Mekka und Medina zu zerstören und die Türken aus Jerusalem zu
vertreiben. Zudem ging der erste Stoß der Aegypter nicht direct gegen die
abessinische Grenze; ihr Eroberungszug folgte natürlich dem Laufe des Nil,
von da nach Kordofan, später nach dem Atbara und Taka, wo namentlich
die Hadendoa sich mit der größten Ausdauer wehrten.

Sennaar und der blaue Nil folgten erst später und nach und nach die
heidnischen Negerstämme bis zur Grenze von Amhara. Da jedoch diese
Stämme, bekannt unter dem Collectivnamen der Schangalla auch fortwährend
mit den Abessiniern in Fehde standen, so bildete ihr Land eine Art neutralen
Gebiets, das eine unmittelbare Berührung der beiden Concurrenten verhinderte.
Als schließlich auch dieses Gebiet von den Aegyptern unterworfen wurde, hatte
sich ihre Herrschaft bereits so befestigt, daß sie ein feindseliges Auftreten der
Abessinier nicht zu fürchten brauchten und sogar darauf ausgehen konnten,
einige auch von Abessinien beanspruchten Ländertheile, nach und nach zu


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[0210] heit für Abessinien, sich der so plötzlich erschienenen ägyptischen Uebermacht, die sie schließlich selbst bedrohte, mit Glück zu erwehren. Es ist zweifellos, daß, wenn die beiden Staaten Amhara und Tigre mit aller Macht den kämpfen¬ den Sudanesen zu Hilfe geeilt wären, Aegypten gezwungen worden wäre, den Sudan zu räumen. Ob für den Letzteren eine solche Unabhängigkeit ein Glück gewesen wäre, ist freilich mehr wie zweifelhaft; denn die inneren Fehden und die allgemeine Unsicherheit würden sofort wieder Platz gegriffen haben; die mit manchen unnöthigen Grausamkeiten verknüpfte ägyptische Herrschaft hat doch wenigstens Sicherheit und Ruhe geschaffen und der europäischen Kultur den Weg nach dem Innern gebahnt. Daß Abessinien den richtigen Augenblick nicht benutzte, hat eine Reihe von Gründen, von denen, meines Erachtens, die Folgenden am wichtigsten sind. Zunächst war zur Zeit der türkischen oder ägyptischen Einfälle im Sudan Abessinien kein einheitlicher Staat mehr und nur noch ein trauriger Schatten seiner früheren Macht und Größe- Factisch bestand das Land aus drei Reichen. Amhara, Tigre und Schoa, die sich von Zeit zu Zeit bekämpften und von einem Interesse, das sie gegen einen äußeren Feind einig machen sollte, keine Ahnung hatten. Im Innern der drei Reiche herrschte fortwährend und herrscht heute noch Raub und Fehde von einem Stamm gegen den anderen, einer Landschaft gegen die andere, Zänkereien, die ein gemeinsames Wirken unmöglich machten. Dann hatten die Abessinier von der sie bedrohenden Gefahr wirklich keine Ahnung, ihre Vorstellungen von der außerabessinischen Welt sind so mangelhaft und dabei so voll übertriebener Selbstgefälligkeit und Eitelkeit, daß es ihnen nicht im Entferntesten einfiel, es könne der Tag kommen, wo das Land „Aethiopia" von einem äußeren Feinde bedroht würde. Glaubt doch heute noch jeder Abessinier fest, daß sein Volk bestimmt sei , den Muhamedanismus zu ver¬ tilgen, Mekka und Medina zu zerstören und die Türken aus Jerusalem zu vertreiben. Zudem ging der erste Stoß der Aegypter nicht direct gegen die abessinische Grenze; ihr Eroberungszug folgte natürlich dem Laufe des Nil, von da nach Kordofan, später nach dem Atbara und Taka, wo namentlich die Hadendoa sich mit der größten Ausdauer wehrten. Sennaar und der blaue Nil folgten erst später und nach und nach die heidnischen Negerstämme bis zur Grenze von Amhara. Da jedoch diese Stämme, bekannt unter dem Collectivnamen der Schangalla auch fortwährend mit den Abessiniern in Fehde standen, so bildete ihr Land eine Art neutralen Gebiets, das eine unmittelbare Berührung der beiden Concurrenten verhinderte. Als schließlich auch dieses Gebiet von den Aegyptern unterworfen wurde, hatte sich ihre Herrschaft bereits so befestigt, daß sie ein feindseliges Auftreten der Abessinier nicht zu fürchten brauchten und sogar darauf ausgehen konnten, einige auch von Abessinien beanspruchten Ländertheile, nach und nach zu I

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/210>, abgerufen am 19.10.2024.