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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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der officiösen Presse im Allgemeinen darzulegen, wendete er sich zu den
Erdichtungen der Socialdemokraten und ihrer Schädlichkeit. Er tadelte, daß
man diese Erdichtungen lieber ignorire als widerlegt, und wandte sich nament¬
lich gegen Bamberger's Aeußerung über den Grafen Eulenburg. Zum Schluß
charakrerisirte der Kanzler die Erdichtungen der neuesten Verleumdungsepidemie,
die er durch Strafe, noch lieber aber durch das Mißtrauen und die Zurück¬
weisung von Seiten aller ehrlichen Leute unschädlich gemacht zu sehen wünschte.

Irren wir nicht, so wird diese Rede, obgleich die Paragraphen 130 und
131 darauf vom Reichstag einstimmig abgelehnt wurden, einen so bald nicht
aufhörenden Nachhall hervorrufen. Ein Blatt der Fortschrittspartei hat die
Rede bereits als Wahlprogramm bezeichnet. Ueberraschen mußte es freilich,
daß nach dieser Rede in der folgenden Sitzung vom 10, Januar, wo zum
§ 130 die Novelle angenommen wurde, der Abgeordnete Wehrenpfennig Na¬
mens der nationalliberalen Partei dem Abgeordneten v. Saucken-Tarputschen
als Führer der Fortschrittspartei eine Liebeserklärung machte, weil "die ver¬
schiedenen Schätzungen des Liberalismus grade heute die wenigste Ursache
haben, sich zu bekämpfen". Ferner erklärte Dr. Wehrenpfennig, es sei seiner
Partei unmöglich, jemals einer Person zu Gefallen zu stimmen; höchstens
könne sie Rücksicht nehmen auf eine Situation. Wie nun aber, müssen wir
fragen, wenn die Situation von der Person abhängt? Wie eine Partei, die
ihre Unabhängigkeit und zwar die politische, nicht die moralische -- denn die
Behauptung der letzteren ist unter allen Umständen Pflicht und wird der
nationalliberalen Partei nur von der Verleumdung bestritten -- in die erste
Linie stellt und dabei unablässig die enge Bundesgenossenschaft mit einer dem
Reichskanzler principiell feindlichen Partei sucht, auf die Dauer die Stütze
des Reichskanzlers sein könnte, ist schwer zu begreifen. Der Reichskanzler
seinerseits ist fern davon, mit der nationalliberalen Partei brechen zu wollen,
deren Verdienste und patriotischer Wille ihm gewiß nicht entgehen. Das
zeigte deutlich der Dank, den er beim Schluß zwar an den Reichstag als
solchen richtete, den sich aber die nationalliberale Partei anzunehmen neben
L -- r. den konservativen Parteien berechtigt war.




Literatur.

Erinnerungen und Rathschläge, 1813 bis 1873. Von Graf John Russell.
Autorisirte deutsche Uebersetzung. Halle, Hermann Gesenius 1876.

Die persönlichen Erinnerungen des greisen englischen Staatsmannes, die
wir hier erhalten, beziehen sich in der Hauptsache auf einen Besuch desselben


der officiösen Presse im Allgemeinen darzulegen, wendete er sich zu den
Erdichtungen der Socialdemokraten und ihrer Schädlichkeit. Er tadelte, daß
man diese Erdichtungen lieber ignorire als widerlegt, und wandte sich nament¬
lich gegen Bamberger's Aeußerung über den Grafen Eulenburg. Zum Schluß
charakrerisirte der Kanzler die Erdichtungen der neuesten Verleumdungsepidemie,
die er durch Strafe, noch lieber aber durch das Mißtrauen und die Zurück¬
weisung von Seiten aller ehrlichen Leute unschädlich gemacht zu sehen wünschte.

Irren wir nicht, so wird diese Rede, obgleich die Paragraphen 130 und
131 darauf vom Reichstag einstimmig abgelehnt wurden, einen so bald nicht
aufhörenden Nachhall hervorrufen. Ein Blatt der Fortschrittspartei hat die
Rede bereits als Wahlprogramm bezeichnet. Ueberraschen mußte es freilich,
daß nach dieser Rede in der folgenden Sitzung vom 10, Januar, wo zum
§ 130 die Novelle angenommen wurde, der Abgeordnete Wehrenpfennig Na¬
mens der nationalliberalen Partei dem Abgeordneten v. Saucken-Tarputschen
als Führer der Fortschrittspartei eine Liebeserklärung machte, weil „die ver¬
schiedenen Schätzungen des Liberalismus grade heute die wenigste Ursache
haben, sich zu bekämpfen". Ferner erklärte Dr. Wehrenpfennig, es sei seiner
Partei unmöglich, jemals einer Person zu Gefallen zu stimmen; höchstens
könne sie Rücksicht nehmen auf eine Situation. Wie nun aber, müssen wir
fragen, wenn die Situation von der Person abhängt? Wie eine Partei, die
ihre Unabhängigkeit und zwar die politische, nicht die moralische — denn die
Behauptung der letzteren ist unter allen Umständen Pflicht und wird der
nationalliberalen Partei nur von der Verleumdung bestritten — in die erste
Linie stellt und dabei unablässig die enge Bundesgenossenschaft mit einer dem
Reichskanzler principiell feindlichen Partei sucht, auf die Dauer die Stütze
des Reichskanzlers sein könnte, ist schwer zu begreifen. Der Reichskanzler
seinerseits ist fern davon, mit der nationalliberalen Partei brechen zu wollen,
deren Verdienste und patriotischer Wille ihm gewiß nicht entgehen. Das
zeigte deutlich der Dank, den er beim Schluß zwar an den Reichstag als
solchen richtete, den sich aber die nationalliberale Partei anzunehmen neben
L — r. den konservativen Parteien berechtigt war.




Literatur.

Erinnerungen und Rathschläge, 1813 bis 1873. Von Graf John Russell.
Autorisirte deutsche Uebersetzung. Halle, Hermann Gesenius 1876.

Die persönlichen Erinnerungen des greisen englischen Staatsmannes, die
wir hier erhalten, beziehen sich in der Hauptsache auf einen Besuch desselben


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[0327] der officiösen Presse im Allgemeinen darzulegen, wendete er sich zu den Erdichtungen der Socialdemokraten und ihrer Schädlichkeit. Er tadelte, daß man diese Erdichtungen lieber ignorire als widerlegt, und wandte sich nament¬ lich gegen Bamberger's Aeußerung über den Grafen Eulenburg. Zum Schluß charakrerisirte der Kanzler die Erdichtungen der neuesten Verleumdungsepidemie, die er durch Strafe, noch lieber aber durch das Mißtrauen und die Zurück¬ weisung von Seiten aller ehrlichen Leute unschädlich gemacht zu sehen wünschte. Irren wir nicht, so wird diese Rede, obgleich die Paragraphen 130 und 131 darauf vom Reichstag einstimmig abgelehnt wurden, einen so bald nicht aufhörenden Nachhall hervorrufen. Ein Blatt der Fortschrittspartei hat die Rede bereits als Wahlprogramm bezeichnet. Ueberraschen mußte es freilich, daß nach dieser Rede in der folgenden Sitzung vom 10, Januar, wo zum § 130 die Novelle angenommen wurde, der Abgeordnete Wehrenpfennig Na¬ mens der nationalliberalen Partei dem Abgeordneten v. Saucken-Tarputschen als Führer der Fortschrittspartei eine Liebeserklärung machte, weil „die ver¬ schiedenen Schätzungen des Liberalismus grade heute die wenigste Ursache haben, sich zu bekämpfen". Ferner erklärte Dr. Wehrenpfennig, es sei seiner Partei unmöglich, jemals einer Person zu Gefallen zu stimmen; höchstens könne sie Rücksicht nehmen auf eine Situation. Wie nun aber, müssen wir fragen, wenn die Situation von der Person abhängt? Wie eine Partei, die ihre Unabhängigkeit und zwar die politische, nicht die moralische — denn die Behauptung der letzteren ist unter allen Umständen Pflicht und wird der nationalliberalen Partei nur von der Verleumdung bestritten — in die erste Linie stellt und dabei unablässig die enge Bundesgenossenschaft mit einer dem Reichskanzler principiell feindlichen Partei sucht, auf die Dauer die Stütze des Reichskanzlers sein könnte, ist schwer zu begreifen. Der Reichskanzler seinerseits ist fern davon, mit der nationalliberalen Partei brechen zu wollen, deren Verdienste und patriotischer Wille ihm gewiß nicht entgehen. Das zeigte deutlich der Dank, den er beim Schluß zwar an den Reichstag als solchen richtete, den sich aber die nationalliberale Partei anzunehmen neben L — r. den konservativen Parteien berechtigt war. Literatur. Erinnerungen und Rathschläge, 1813 bis 1873. Von Graf John Russell. Autorisirte deutsche Uebersetzung. Halle, Hermann Gesenius 1876. Die persönlichen Erinnerungen des greisen englischen Staatsmannes, die wir hier erhalten, beziehen sich in der Hauptsache auf einen Besuch desselben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/327>, abgerufen am 22.07.2024.