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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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auswärtige Blätter unserm Ländchen einen Dienst, wenn sie dem rein theore¬
tischen, durch nichts begründeten Vorschlage des sog. Fortschritts, der wahr¬
scheinlich auch im preußischen "Fortschritt" ein Echo finden wird, zeitig ent¬
gegentreten. Daß man sich vorher über das Maß der in der Domänensache
zu machenden Zugeständnisse vergewissere, bleibt ja nicht ausgeschlossen.




Die Partei der Unabhängigen in der nordameri¬
kanischen Union.

Man dürfte sich kaum ein treueres Spiegelbild der jetzigen politischen
Zustände in den Vereinigten Staaten, mit allen ihren Verwirrungen und
Möglichkeiten, denken können, als es uns durch die Municipalwahl, die
Mitte December des vorigen Jahres zu Boston im Staate Massachusetts
stattfand, in Wirklichkeit geboten worden ist. Wir geben nachstehend eine
kurze Schilderung dieser Wahl, einmal, weil sie wesentlich zum bessern Ver¬
ständniß der politischen Parteiverhältnisse in der nordamerikanischen Union
beiträgt, dann aber auch, weil sie ein besonderes Licht auf die Stellung
der Partei der sogenannten Unabhängigen (Indöpslläsnts) wirst und
selbst für gewisse politische Verhältnisse in Europa lehrreich sein dürfte.

Im Jahre 1873 stellten die Demokraten in Boston als Candidaten für
das Mayors- oder Bürgermeisteramt Herrn Samuel Codd auf; derselbe wurde
gewählt. Die Amtsverwaltung des Herrn Codd war so vortrefflich, daß er
um nächsten Jahre ohne Opposition wiedergewählt wurde. Sein zweiter
Amtstermin zeichnete sich durch eine ebenso tadellose Verwaltung aus, wie
der erste, und am Schluße desselben wünschte Herr Codd ins Privatleben
zurückzutreten. Aber während der Mann das Amt nicht mehr suchte, suchte
nun das Amt den Mann. Eine große Zahl angesehener Bürger von allen
Politischen Parteischattirungen, Unabhängige, Republikaner und Demokraten
erließen eine Adresse an ihn> welche ihn zu der Erklärung bewog, daß er das
Mayorsamt noch einmal wieder annehmen würde.

Jetzt entwickelte sich aber plötzlich eine Opposition äußerst charakteristischer
Art. Die politischen Drahtzieher, Aemterjäger, Jobbers u. s. w. hatten nämlich
Unter Herrn Codd ihre Rechnung nicht gefunden; sie meinten daher, es sei an
der Zeit, einen andern Mayor zu wählen, nicht, weil der bisherige nicht gut


Grenzboten I. 1876. 36

auswärtige Blätter unserm Ländchen einen Dienst, wenn sie dem rein theore¬
tischen, durch nichts begründeten Vorschlage des sog. Fortschritts, der wahr¬
scheinlich auch im preußischen „Fortschritt" ein Echo finden wird, zeitig ent¬
gegentreten. Daß man sich vorher über das Maß der in der Domänensache
zu machenden Zugeständnisse vergewissere, bleibt ja nicht ausgeschlossen.




Die Partei der Unabhängigen in der nordameri¬
kanischen Union.

Man dürfte sich kaum ein treueres Spiegelbild der jetzigen politischen
Zustände in den Vereinigten Staaten, mit allen ihren Verwirrungen und
Möglichkeiten, denken können, als es uns durch die Municipalwahl, die
Mitte December des vorigen Jahres zu Boston im Staate Massachusetts
stattfand, in Wirklichkeit geboten worden ist. Wir geben nachstehend eine
kurze Schilderung dieser Wahl, einmal, weil sie wesentlich zum bessern Ver¬
ständniß der politischen Parteiverhältnisse in der nordamerikanischen Union
beiträgt, dann aber auch, weil sie ein besonderes Licht auf die Stellung
der Partei der sogenannten Unabhängigen (Indöpslläsnts) wirst und
selbst für gewisse politische Verhältnisse in Europa lehrreich sein dürfte.

Im Jahre 1873 stellten die Demokraten in Boston als Candidaten für
das Mayors- oder Bürgermeisteramt Herrn Samuel Codd auf; derselbe wurde
gewählt. Die Amtsverwaltung des Herrn Codd war so vortrefflich, daß er
um nächsten Jahre ohne Opposition wiedergewählt wurde. Sein zweiter
Amtstermin zeichnete sich durch eine ebenso tadellose Verwaltung aus, wie
der erste, und am Schluße desselben wünschte Herr Codd ins Privatleben
zurückzutreten. Aber während der Mann das Amt nicht mehr suchte, suchte
nun das Amt den Mann. Eine große Zahl angesehener Bürger von allen
Politischen Parteischattirungen, Unabhängige, Republikaner und Demokraten
erließen eine Adresse an ihn> welche ihn zu der Erklärung bewog, daß er das
Mayorsamt noch einmal wieder annehmen würde.

Jetzt entwickelte sich aber plötzlich eine Opposition äußerst charakteristischer
Art. Die politischen Drahtzieher, Aemterjäger, Jobbers u. s. w. hatten nämlich
Unter Herrn Codd ihre Rechnung nicht gefunden; sie meinten daher, es sei an
der Zeit, einen andern Mayor zu wählen, nicht, weil der bisherige nicht gut


Grenzboten I. 1876. 36
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[0281] auswärtige Blätter unserm Ländchen einen Dienst, wenn sie dem rein theore¬ tischen, durch nichts begründeten Vorschlage des sog. Fortschritts, der wahr¬ scheinlich auch im preußischen „Fortschritt" ein Echo finden wird, zeitig ent¬ gegentreten. Daß man sich vorher über das Maß der in der Domänensache zu machenden Zugeständnisse vergewissere, bleibt ja nicht ausgeschlossen. Die Partei der Unabhängigen in der nordameri¬ kanischen Union. Man dürfte sich kaum ein treueres Spiegelbild der jetzigen politischen Zustände in den Vereinigten Staaten, mit allen ihren Verwirrungen und Möglichkeiten, denken können, als es uns durch die Municipalwahl, die Mitte December des vorigen Jahres zu Boston im Staate Massachusetts stattfand, in Wirklichkeit geboten worden ist. Wir geben nachstehend eine kurze Schilderung dieser Wahl, einmal, weil sie wesentlich zum bessern Ver¬ ständniß der politischen Parteiverhältnisse in der nordamerikanischen Union beiträgt, dann aber auch, weil sie ein besonderes Licht auf die Stellung der Partei der sogenannten Unabhängigen (Indöpslläsnts) wirst und selbst für gewisse politische Verhältnisse in Europa lehrreich sein dürfte. Im Jahre 1873 stellten die Demokraten in Boston als Candidaten für das Mayors- oder Bürgermeisteramt Herrn Samuel Codd auf; derselbe wurde gewählt. Die Amtsverwaltung des Herrn Codd war so vortrefflich, daß er um nächsten Jahre ohne Opposition wiedergewählt wurde. Sein zweiter Amtstermin zeichnete sich durch eine ebenso tadellose Verwaltung aus, wie der erste, und am Schluße desselben wünschte Herr Codd ins Privatleben zurückzutreten. Aber während der Mann das Amt nicht mehr suchte, suchte nun das Amt den Mann. Eine große Zahl angesehener Bürger von allen Politischen Parteischattirungen, Unabhängige, Republikaner und Demokraten erließen eine Adresse an ihn> welche ihn zu der Erklärung bewog, daß er das Mayorsamt noch einmal wieder annehmen würde. Jetzt entwickelte sich aber plötzlich eine Opposition äußerst charakteristischer Art. Die politischen Drahtzieher, Aemterjäger, Jobbers u. s. w. hatten nämlich Unter Herrn Codd ihre Rechnung nicht gefunden; sie meinten daher, es sei an der Zeit, einen andern Mayor zu wählen, nicht, weil der bisherige nicht gut Grenzboten I. 1876. 36

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/281>, abgerufen am 22.07.2024.