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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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entnervende Wirkung. Die Jurisprudenz verliert dabei schließlich den Muth
der Entscheidung*), und indem sie gewöhnt wird, bei der Gesetzgebung fort¬
während zu betteln, wird sie mit den Gaben, die sie dann von dieser empfängt,
doch nie den Bedürfnissen des Lebens gerecht zu werden vermögen.


L. v. Bar.


Wein HnKel Jenjamin.
i.

So nennt sich in unserer Sprache ein kleines liebenswürdiges Buch von
Claude Tillier, welches, von Ludwig Pfau bei einem fliegenden Buchhändler
der pariser Quais entdeckt und ins Deutsche übertragen, uns als eine Perle
echten Humors einer ausführlichen Anzeige werth scheint.

Die Leser wissen vermuthlich nichts von Claude Tillier. Wer sein Buch liest,
kann eine Weile nach dem einfachen und bestimmten Stil desselben an einen
Schriftsteller des vorigen Jahrhunderts denken. Die natürliche Erzählung
erinnert an Voltaire und Lesage, das innige Naturgefühl an Rousseau, auch
die überall sich äußernde Liebe zu einfacher Menschenart stellt ihn diesem nahe.
Aber bei näherem Zusehen gewahren wir doch zu viel modernes Bewußtsein,
um verkennen zu können, daß das Lebensbild, das uns hier geboten wird,
aus der Zeit nach der großen Revolution stammt, und daß der Verfasser
zwar ein Enkel der mit jenem Namen bezeichneten Generation, sein Humor
aber ein ganz eigengearteter ist. Und so verhält es sich in der That. Claude
Tillier, 1801 zu Clamecy im Departement der Niövre geboren, ist 1844 zu
Revers an der Schwindsucht gestorben, nachdem er erst Schullehrer, dann
Journalist gewesen. Er ist verschollen, weil er im Dunkel einer Kleinstadt
schrieb und deshalb von Paris ignorirt wurde. "Wer aber Paris nicht kennt,
der kennt Frankreich nicht." Wenn Pfau ihn auferweckt und in die deutsche
Literatur eingeführt hat, so ist das ein Verdienst, für welches wir ihm die



*) Wir wollen nur auf Folgendes aufmerksam machen. Eine Sy eclat Vorschrift über
Fälle der fraglichen Art wird leicht den Erfolg haben, die unsrer Ansicht nach falsche und schon
ohnehin recht verbreitete Theorie des verbrecherischen Vorsatzes (volns), welche das Strafgesetz
gerade in den schändlichsten, gefährlichsten Fällen entwaffnet, erst recht zu befestigen, und eben¬
so vielleicht eine geistlose und zweckwidrige Auffassung der V o rb er el tun gs Handlungen. Wer
z. B. die u. E. unrichtige Ansicht über den volus hat, wird darin durch das sog. ^rgu-
mvntnm ?t oonti-ku'lo nur bestärkt werden. Einer doch auch leicht möglichen analogen ruch¬
losen Massenvergiftung gegenüber würde es dann wieder eines Specialgesetzcs bedürfen.

entnervende Wirkung. Die Jurisprudenz verliert dabei schließlich den Muth
der Entscheidung*), und indem sie gewöhnt wird, bei der Gesetzgebung fort¬
während zu betteln, wird sie mit den Gaben, die sie dann von dieser empfängt,
doch nie den Bedürfnissen des Lebens gerecht zu werden vermögen.


L. v. Bar.


Wein HnKel Jenjamin.
i.

So nennt sich in unserer Sprache ein kleines liebenswürdiges Buch von
Claude Tillier, welches, von Ludwig Pfau bei einem fliegenden Buchhändler
der pariser Quais entdeckt und ins Deutsche übertragen, uns als eine Perle
echten Humors einer ausführlichen Anzeige werth scheint.

Die Leser wissen vermuthlich nichts von Claude Tillier. Wer sein Buch liest,
kann eine Weile nach dem einfachen und bestimmten Stil desselben an einen
Schriftsteller des vorigen Jahrhunderts denken. Die natürliche Erzählung
erinnert an Voltaire und Lesage, das innige Naturgefühl an Rousseau, auch
die überall sich äußernde Liebe zu einfacher Menschenart stellt ihn diesem nahe.
Aber bei näherem Zusehen gewahren wir doch zu viel modernes Bewußtsein,
um verkennen zu können, daß das Lebensbild, das uns hier geboten wird,
aus der Zeit nach der großen Revolution stammt, und daß der Verfasser
zwar ein Enkel der mit jenem Namen bezeichneten Generation, sein Humor
aber ein ganz eigengearteter ist. Und so verhält es sich in der That. Claude
Tillier, 1801 zu Clamecy im Departement der Niövre geboren, ist 1844 zu
Revers an der Schwindsucht gestorben, nachdem er erst Schullehrer, dann
Journalist gewesen. Er ist verschollen, weil er im Dunkel einer Kleinstadt
schrieb und deshalb von Paris ignorirt wurde. „Wer aber Paris nicht kennt,
der kennt Frankreich nicht." Wenn Pfau ihn auferweckt und in die deutsche
Literatur eingeführt hat, so ist das ein Verdienst, für welches wir ihm die



*) Wir wollen nur auf Folgendes aufmerksam machen. Eine Sy eclat Vorschrift über
Fälle der fraglichen Art wird leicht den Erfolg haben, die unsrer Ansicht nach falsche und schon
ohnehin recht verbreitete Theorie des verbrecherischen Vorsatzes (volns), welche das Strafgesetz
gerade in den schändlichsten, gefährlichsten Fällen entwaffnet, erst recht zu befestigen, und eben¬
so vielleicht eine geistlose und zweckwidrige Auffassung der V o rb er el tun gs Handlungen. Wer
z. B. die u. E. unrichtige Ansicht über den volus hat, wird darin durch das sog. ^rgu-
mvntnm ?t oonti-ku'lo nur bestärkt werden. Einer doch auch leicht möglichen analogen ruch¬
losen Massenvergiftung gegenüber würde es dann wieder eines Specialgesetzcs bedürfen.
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[0182] entnervende Wirkung. Die Jurisprudenz verliert dabei schließlich den Muth der Entscheidung*), und indem sie gewöhnt wird, bei der Gesetzgebung fort¬ während zu betteln, wird sie mit den Gaben, die sie dann von dieser empfängt, doch nie den Bedürfnissen des Lebens gerecht zu werden vermögen. L. v. Bar. Wein HnKel Jenjamin. i. So nennt sich in unserer Sprache ein kleines liebenswürdiges Buch von Claude Tillier, welches, von Ludwig Pfau bei einem fliegenden Buchhändler der pariser Quais entdeckt und ins Deutsche übertragen, uns als eine Perle echten Humors einer ausführlichen Anzeige werth scheint. Die Leser wissen vermuthlich nichts von Claude Tillier. Wer sein Buch liest, kann eine Weile nach dem einfachen und bestimmten Stil desselben an einen Schriftsteller des vorigen Jahrhunderts denken. Die natürliche Erzählung erinnert an Voltaire und Lesage, das innige Naturgefühl an Rousseau, auch die überall sich äußernde Liebe zu einfacher Menschenart stellt ihn diesem nahe. Aber bei näherem Zusehen gewahren wir doch zu viel modernes Bewußtsein, um verkennen zu können, daß das Lebensbild, das uns hier geboten wird, aus der Zeit nach der großen Revolution stammt, und daß der Verfasser zwar ein Enkel der mit jenem Namen bezeichneten Generation, sein Humor aber ein ganz eigengearteter ist. Und so verhält es sich in der That. Claude Tillier, 1801 zu Clamecy im Departement der Niövre geboren, ist 1844 zu Revers an der Schwindsucht gestorben, nachdem er erst Schullehrer, dann Journalist gewesen. Er ist verschollen, weil er im Dunkel einer Kleinstadt schrieb und deshalb von Paris ignorirt wurde. „Wer aber Paris nicht kennt, der kennt Frankreich nicht." Wenn Pfau ihn auferweckt und in die deutsche Literatur eingeführt hat, so ist das ein Verdienst, für welches wir ihm die *) Wir wollen nur auf Folgendes aufmerksam machen. Eine Sy eclat Vorschrift über Fälle der fraglichen Art wird leicht den Erfolg haben, die unsrer Ansicht nach falsche und schon ohnehin recht verbreitete Theorie des verbrecherischen Vorsatzes (volns), welche das Strafgesetz gerade in den schändlichsten, gefährlichsten Fällen entwaffnet, erst recht zu befestigen, und eben¬ so vielleicht eine geistlose und zweckwidrige Auffassung der V o rb er el tun gs Handlungen. Wer z. B. die u. E. unrichtige Ansicht über den volus hat, wird darin durch das sog. ^rgu- mvntnm ?t oonti-ku'lo nur bestärkt werden. Einer doch auch leicht möglichen analogen ruch¬ losen Massenvergiftung gegenüber würde es dann wieder eines Specialgesetzcs bedürfen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/182>, abgerufen am 22.07.2024.