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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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Literatur.

Gustav Schmoller, Ueber einige Grundfragen des Rechts
und der Volkswirthschaft. Offenes Sendschreiben an Heinrich
von Treitschke. Jena, Friedr. Maule. 1873. -- Wer die Schriften und
das Auftreten Schmoller's in den letzten Jahren verfolgt und daraus entnom¬
men hat, wie tief der derzeitige Rector der Straßburger Hochschule von der
Ueberzeugung durchdrungen ist, daß ohne ihn und ohne Anerkennung seiner
eigenthümlichen wirthschaftlichen und historischen Anschauungen die sociale
Frage nicht gelöst, ja nicht einmal beantwortet werden kann: der mußte
längst erwarten, daß Schmoller sich gegen Treitschke erheben würde, weil
dieser im letzten Herbst jene vortrefflichen Artikel über "den Socialismus und
seine Gönner" in den Preußischen Jahrbüchern geschrieben, und darin u. A.
auch die Ansichten des Herrn Schmoller stellenweise als das Gegentheil von
Weisheit behandelt hatte. Diese von den Kennern des Herrn Schmoller längst
erwartete Streitschrift ist nun erschienen. Das "offene Sendschreiben" ist dem
Verfasser "unter der Hand" zu elf Druckbogen angeschwollen. Er selbst "ver¬
mißt sich nicht, Herrn von Treitschke" durch dieses Opus "zu überzeugen,
daß seine leitenden Ideen unhaltbar oder auch nur, daß sie übertrieben
und einseitig seien". Darin wird Herr Schmoller wohl das Urtheil der
größten Mehrzahl der Leser seiner Streitschrift ganz richtig ausgedrückt
haben. Die Frage ist nur, ob nicht seine Leser einen Schritt weiter
gehen, und in dieser Schrift überhaupt die leitenden Ideen vermissen, und
da wo solche dem Namen nach vorkommen, sie "unhaltbar übertrieben und
einseitig" finden. Darüber werden ferner alle Leser Schmoller's einig sein,
daß Schmoller schon deshalb die Ansichten und Ideen Treitschke's gar nicht
widerlegen konnte, weil er überall an ihnen vorbeischießt oder vielmehr
sie gar nicht zum Gegenstande seines Angriffes gemacht hat, sondern
statt ihrer eine Anzahl zurückgelegter Schrullen, die vor den "anderweiten
Berufsgeschäften" des Verfassers bisher zurücktreten mußten, und nun zwischen
Reetoratsgeschäften, Vorlesungen u. s. w. hier zusammengeschrieben worden
sind. Wir müssen einem Manne, der angesichts der fruchtbaren gesetzgeberischen
Thätigkeit und socialen Reform, die im letzten Jahrzehnt fast ausschließlich
von den "besitzenden Klassen" ausgegangen ist, davon zu reden wagt, "das
Problem der Gegenwart in socialer Beziehung liege in dem Ringen gewisser
rechtlicher und sittlicher Ideale mit den Sätzen einer überlieferten Volks¬
wirthschaftslehre und den practischen Forderungen eines dem Tage dienenden,
den besitzenden Klassen bequemen Geschäftsganges, der vor allem ungestört
bleiben will (!)", einfach das Verständniß und die Kenntniß unserer öffent¬
lichen Verhältnisse und unserer Zeit bestreikn, so gut er auch im Mittelalter


Literatur.

Gustav Schmoller, Ueber einige Grundfragen des Rechts
und der Volkswirthschaft. Offenes Sendschreiben an Heinrich
von Treitschke. Jena, Friedr. Maule. 1873. — Wer die Schriften und
das Auftreten Schmoller's in den letzten Jahren verfolgt und daraus entnom¬
men hat, wie tief der derzeitige Rector der Straßburger Hochschule von der
Ueberzeugung durchdrungen ist, daß ohne ihn und ohne Anerkennung seiner
eigenthümlichen wirthschaftlichen und historischen Anschauungen die sociale
Frage nicht gelöst, ja nicht einmal beantwortet werden kann: der mußte
längst erwarten, daß Schmoller sich gegen Treitschke erheben würde, weil
dieser im letzten Herbst jene vortrefflichen Artikel über „den Socialismus und
seine Gönner" in den Preußischen Jahrbüchern geschrieben, und darin u. A.
auch die Ansichten des Herrn Schmoller stellenweise als das Gegentheil von
Weisheit behandelt hatte. Diese von den Kennern des Herrn Schmoller längst
erwartete Streitschrift ist nun erschienen. Das „offene Sendschreiben" ist dem
Verfasser „unter der Hand" zu elf Druckbogen angeschwollen. Er selbst „ver¬
mißt sich nicht, Herrn von Treitschke" durch dieses Opus „zu überzeugen,
daß seine leitenden Ideen unhaltbar oder auch nur, daß sie übertrieben
und einseitig seien". Darin wird Herr Schmoller wohl das Urtheil der
größten Mehrzahl der Leser seiner Streitschrift ganz richtig ausgedrückt
haben. Die Frage ist nur, ob nicht seine Leser einen Schritt weiter
gehen, und in dieser Schrift überhaupt die leitenden Ideen vermissen, und
da wo solche dem Namen nach vorkommen, sie „unhaltbar übertrieben und
einseitig" finden. Darüber werden ferner alle Leser Schmoller's einig sein,
daß Schmoller schon deshalb die Ansichten und Ideen Treitschke's gar nicht
widerlegen konnte, weil er überall an ihnen vorbeischießt oder vielmehr
sie gar nicht zum Gegenstande seines Angriffes gemacht hat, sondern
statt ihrer eine Anzahl zurückgelegter Schrullen, die vor den „anderweiten
Berufsgeschäften" des Verfassers bisher zurücktreten mußten, und nun zwischen
Reetoratsgeschäften, Vorlesungen u. s. w. hier zusammengeschrieben worden
sind. Wir müssen einem Manne, der angesichts der fruchtbaren gesetzgeberischen
Thätigkeit und socialen Reform, die im letzten Jahrzehnt fast ausschließlich
von den „besitzenden Klassen" ausgegangen ist, davon zu reden wagt, „das
Problem der Gegenwart in socialer Beziehung liege in dem Ringen gewisser
rechtlicher und sittlicher Ideale mit den Sätzen einer überlieferten Volks¬
wirthschaftslehre und den practischen Forderungen eines dem Tage dienenden,
den besitzenden Klassen bequemen Geschäftsganges, der vor allem ungestört
bleiben will (!)", einfach das Verständniß und die Kenntniß unserer öffent¬
lichen Verhältnisse und unserer Zeit bestreikn, so gut er auch im Mittelalter


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[0043] Literatur. Gustav Schmoller, Ueber einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirthschaft. Offenes Sendschreiben an Heinrich von Treitschke. Jena, Friedr. Maule. 1873. — Wer die Schriften und das Auftreten Schmoller's in den letzten Jahren verfolgt und daraus entnom¬ men hat, wie tief der derzeitige Rector der Straßburger Hochschule von der Ueberzeugung durchdrungen ist, daß ohne ihn und ohne Anerkennung seiner eigenthümlichen wirthschaftlichen und historischen Anschauungen die sociale Frage nicht gelöst, ja nicht einmal beantwortet werden kann: der mußte längst erwarten, daß Schmoller sich gegen Treitschke erheben würde, weil dieser im letzten Herbst jene vortrefflichen Artikel über „den Socialismus und seine Gönner" in den Preußischen Jahrbüchern geschrieben, und darin u. A. auch die Ansichten des Herrn Schmoller stellenweise als das Gegentheil von Weisheit behandelt hatte. Diese von den Kennern des Herrn Schmoller längst erwartete Streitschrift ist nun erschienen. Das „offene Sendschreiben" ist dem Verfasser „unter der Hand" zu elf Druckbogen angeschwollen. Er selbst „ver¬ mißt sich nicht, Herrn von Treitschke" durch dieses Opus „zu überzeugen, daß seine leitenden Ideen unhaltbar oder auch nur, daß sie übertrieben und einseitig seien". Darin wird Herr Schmoller wohl das Urtheil der größten Mehrzahl der Leser seiner Streitschrift ganz richtig ausgedrückt haben. Die Frage ist nur, ob nicht seine Leser einen Schritt weiter gehen, und in dieser Schrift überhaupt die leitenden Ideen vermissen, und da wo solche dem Namen nach vorkommen, sie „unhaltbar übertrieben und einseitig" finden. Darüber werden ferner alle Leser Schmoller's einig sein, daß Schmoller schon deshalb die Ansichten und Ideen Treitschke's gar nicht widerlegen konnte, weil er überall an ihnen vorbeischießt oder vielmehr sie gar nicht zum Gegenstande seines Angriffes gemacht hat, sondern statt ihrer eine Anzahl zurückgelegter Schrullen, die vor den „anderweiten Berufsgeschäften" des Verfassers bisher zurücktreten mußten, und nun zwischen Reetoratsgeschäften, Vorlesungen u. s. w. hier zusammengeschrieben worden sind. Wir müssen einem Manne, der angesichts der fruchtbaren gesetzgeberischen Thätigkeit und socialen Reform, die im letzten Jahrzehnt fast ausschließlich von den „besitzenden Klassen" ausgegangen ist, davon zu reden wagt, „das Problem der Gegenwart in socialer Beziehung liege in dem Ringen gewisser rechtlicher und sittlicher Ideale mit den Sätzen einer überlieferten Volks¬ wirthschaftslehre und den practischen Forderungen eines dem Tage dienenden, den besitzenden Klassen bequemen Geschäftsganges, der vor allem ungestört bleiben will (!)", einfach das Verständniß und die Kenntniß unserer öffent¬ lichen Verhältnisse und unserer Zeit bestreikn, so gut er auch im Mittelalter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/43>, abgerufen am 05.02.2025.