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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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Ariefe aus der Kaiserstadt.

"Schwere Zeiten!" Wo wäre dieser Seufzer heut nicht an der Tages¬
ordnung! Man braucht nicht erst die ultramontanen Jeremiaden über die
diocletianische Christenverfolgung oder die socialdemokratischen Verwünschungen
der völkervernichtenden modernen Productionsweise zu hören, noch auch die
Klagen der Wiener und sonstigen Journale über die Isttrss as Laedet des
Berliner Stadtgerichts -- jeder Schusterjunge weiß von der allgemeinen
Misere zu erzählen, jedes Stubenmädel, dem die außeretatmäßigen Silberlinge
dermalen weit seltener und mit viel geringerem Wohlwollen in die Hand ge¬
drückt werden, als weiland zur Zeit des florirenden Gründerthums. Dennoch
hat das öffentliche Leben Berlins durchaus nicht den Anstrich des Darbens
und der Gelähmtheit. Im Allgemeinen hat der "große Krach" bei uns mehr
die Wirkung eines heilsamen Schrecks, als die der directen Zerstörung gehabt.
Was er wirklich vernichtet hat, ist im öffentlichen Interesse kaum zu beklagen.
Weß Geistes Kinder die Hauptpersonen jener schwindelhafter Unternehmungen
waren, hat ja eine Reihe von Criminalverhandlungen gezeigt. Nicht un¬
möglich, daß die schlimmsten der Uebelthäter ungepeitscht von der Ruthe des
Strafgerichts davongekommen sind. Aber wenigstens aus der tonangebenden
Stellung, welche sie im öffentlichen Leben einnahmen, sind sie zurückgedrängt.
Jenes prassende Geldprotzenthum. welches mit seiner geistigen Rohheit den
schönen Beruf des Reichthums für die Pflege des höheren Kulturlebens in
widerlichster Weise parodirte, an die Stelle eines ästhetisch-geläuterten Luxus
die geschmackloseste Prahlerei und Ueberladenheit setzte, in der Musik, der
dramatischen und der bildenden Kunst ausschließlich die grobsinnliche Richtung
begünstigte -- jene Mißbildung ist in unserer Gesellschaft, wenn nicht für
immer beseitigt, so wenigstens gründlich lahm gelegt. Auch der unvermeid¬
liche Schweif der Gründerbarone, jene jugendlichen Employe's der über Nacht
aufgeschossenen Banken und Actiengesellschaften, zum großen Theil fade Gecken,
sitten- und bildungslose Pflastertreter, die ekelhafteste Sorte von "jeunesso
äorös" -- auch das saubere Völkchen ist bis auf wenige Reste hinweggefegt.
Und so hat unser öffentliches Gesellschaftsleben in der That ein erheblich
gesünderes Aussehen gewonnen.

Kein Zweifel ist freilich, daß die große Krise neben unbestreitbar segens¬
reichen auch eine gemeinschädliche Wirkung ausgeübt hat und noch ausübt,
daß sie im Geschäftsleben eine andauernde Stockung erzeugt, und daß sie
manche auf ursprünglich solider Basis beruhende Schöpfung mit ins Ver¬
derben gerissen hat. Die allmähliche Beseitigung dieser Uebelstände nach Maß-


Ariefe aus der Kaiserstadt.

„Schwere Zeiten!" Wo wäre dieser Seufzer heut nicht an der Tages¬
ordnung! Man braucht nicht erst die ultramontanen Jeremiaden über die
diocletianische Christenverfolgung oder die socialdemokratischen Verwünschungen
der völkervernichtenden modernen Productionsweise zu hören, noch auch die
Klagen der Wiener und sonstigen Journale über die Isttrss as Laedet des
Berliner Stadtgerichts — jeder Schusterjunge weiß von der allgemeinen
Misere zu erzählen, jedes Stubenmädel, dem die außeretatmäßigen Silberlinge
dermalen weit seltener und mit viel geringerem Wohlwollen in die Hand ge¬
drückt werden, als weiland zur Zeit des florirenden Gründerthums. Dennoch
hat das öffentliche Leben Berlins durchaus nicht den Anstrich des Darbens
und der Gelähmtheit. Im Allgemeinen hat der „große Krach" bei uns mehr
die Wirkung eines heilsamen Schrecks, als die der directen Zerstörung gehabt.
Was er wirklich vernichtet hat, ist im öffentlichen Interesse kaum zu beklagen.
Weß Geistes Kinder die Hauptpersonen jener schwindelhafter Unternehmungen
waren, hat ja eine Reihe von Criminalverhandlungen gezeigt. Nicht un¬
möglich, daß die schlimmsten der Uebelthäter ungepeitscht von der Ruthe des
Strafgerichts davongekommen sind. Aber wenigstens aus der tonangebenden
Stellung, welche sie im öffentlichen Leben einnahmen, sind sie zurückgedrängt.
Jenes prassende Geldprotzenthum. welches mit seiner geistigen Rohheit den
schönen Beruf des Reichthums für die Pflege des höheren Kulturlebens in
widerlichster Weise parodirte, an die Stelle eines ästhetisch-geläuterten Luxus
die geschmackloseste Prahlerei und Ueberladenheit setzte, in der Musik, der
dramatischen und der bildenden Kunst ausschließlich die grobsinnliche Richtung
begünstigte — jene Mißbildung ist in unserer Gesellschaft, wenn nicht für
immer beseitigt, so wenigstens gründlich lahm gelegt. Auch der unvermeid¬
liche Schweif der Gründerbarone, jene jugendlichen Employe's der über Nacht
aufgeschossenen Banken und Actiengesellschaften, zum großen Theil fade Gecken,
sitten- und bildungslose Pflastertreter, die ekelhafteste Sorte von „jeunesso
äorös" — auch das saubere Völkchen ist bis auf wenige Reste hinweggefegt.
Und so hat unser öffentliches Gesellschaftsleben in der That ein erheblich
gesünderes Aussehen gewonnen.

Kein Zweifel ist freilich, daß die große Krise neben unbestreitbar segens¬
reichen auch eine gemeinschädliche Wirkung ausgeübt hat und noch ausübt,
daß sie im Geschäftsleben eine andauernde Stockung erzeugt, und daß sie
manche auf ursprünglich solider Basis beruhende Schöpfung mit ins Ver¬
derben gerissen hat. Die allmähliche Beseitigung dieser Uebelstände nach Maß-


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[0322] Ariefe aus der Kaiserstadt. „Schwere Zeiten!" Wo wäre dieser Seufzer heut nicht an der Tages¬ ordnung! Man braucht nicht erst die ultramontanen Jeremiaden über die diocletianische Christenverfolgung oder die socialdemokratischen Verwünschungen der völkervernichtenden modernen Productionsweise zu hören, noch auch die Klagen der Wiener und sonstigen Journale über die Isttrss as Laedet des Berliner Stadtgerichts — jeder Schusterjunge weiß von der allgemeinen Misere zu erzählen, jedes Stubenmädel, dem die außeretatmäßigen Silberlinge dermalen weit seltener und mit viel geringerem Wohlwollen in die Hand ge¬ drückt werden, als weiland zur Zeit des florirenden Gründerthums. Dennoch hat das öffentliche Leben Berlins durchaus nicht den Anstrich des Darbens und der Gelähmtheit. Im Allgemeinen hat der „große Krach" bei uns mehr die Wirkung eines heilsamen Schrecks, als die der directen Zerstörung gehabt. Was er wirklich vernichtet hat, ist im öffentlichen Interesse kaum zu beklagen. Weß Geistes Kinder die Hauptpersonen jener schwindelhafter Unternehmungen waren, hat ja eine Reihe von Criminalverhandlungen gezeigt. Nicht un¬ möglich, daß die schlimmsten der Uebelthäter ungepeitscht von der Ruthe des Strafgerichts davongekommen sind. Aber wenigstens aus der tonangebenden Stellung, welche sie im öffentlichen Leben einnahmen, sind sie zurückgedrängt. Jenes prassende Geldprotzenthum. welches mit seiner geistigen Rohheit den schönen Beruf des Reichthums für die Pflege des höheren Kulturlebens in widerlichster Weise parodirte, an die Stelle eines ästhetisch-geläuterten Luxus die geschmackloseste Prahlerei und Ueberladenheit setzte, in der Musik, der dramatischen und der bildenden Kunst ausschließlich die grobsinnliche Richtung begünstigte — jene Mißbildung ist in unserer Gesellschaft, wenn nicht für immer beseitigt, so wenigstens gründlich lahm gelegt. Auch der unvermeid¬ liche Schweif der Gründerbarone, jene jugendlichen Employe's der über Nacht aufgeschossenen Banken und Actiengesellschaften, zum großen Theil fade Gecken, sitten- und bildungslose Pflastertreter, die ekelhafteste Sorte von „jeunesso äorös" — auch das saubere Völkchen ist bis auf wenige Reste hinweggefegt. Und so hat unser öffentliches Gesellschaftsleben in der That ein erheblich gesünderes Aussehen gewonnen. Kein Zweifel ist freilich, daß die große Krise neben unbestreitbar segens¬ reichen auch eine gemeinschädliche Wirkung ausgeübt hat und noch ausübt, daß sie im Geschäftsleben eine andauernde Stockung erzeugt, und daß sie manche auf ursprünglich solider Basis beruhende Schöpfung mit ins Ver¬ derben gerissen hat. Die allmähliche Beseitigung dieser Uebelstände nach Maß-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/322>, abgerufen am 28.12.2024.