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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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Ich deutschen Aeiches Aechtschreibung.^)

Schon wieder ein Buch über deutsche Rechtschreibung? Giebt es denn
von dieser Sorte Maculatur noch immer nicht genug? so rufst du widerwillig
aus, so oft dir ein literarisches Erzeugniß dieser Art unter die Augen kommt.
Und in der That, dein Abscheu ist begreiflich. Denn sicherlich ist auf keinem
Gebiete wissenschaftlicher Thätigkeit so viel absolute Narrheit zu Tage gefor¬
dert worden, wie auf dem der sogenannten Orthographie. Narren giebt es
ja am Ende und hat es zu allen Zeiten gegeben in den verschiedensten Zwei¬
gen der Wissenschaft: mathematische Narren, die von der Vorsehung mit der
Mission betraut zu sein glauben, das gänzlich veraltete und unbrauchbare
Decimalsystem über den Haufen zu werfen und dafür ein Zwölfer-, Achter¬
oder gar ein Sechsersystem einzuführen; etymologische Narren, die in der ho¬
merischen Odyssee eine Verherrlichung der kunstgerecht betriebenen Schweine¬
zucht erblicken, Odysseus zum Schweinetreiber und Penelope zum Kochkessel
für Rindfleisch machen; lexikalische Narren, die überall Fremdwörter wittern
und selbst die Nase in einen Gesichtserker, das Fenster in einen Tageleuchter
umlaufen möchten; mythologische Narren, welche die gesammte Sagenpoesie
in Naturvorgänge auflösen, Achill für einen Fluß und den troischen Krieg
für weiter nichts als eine große Überschwemmung erklären wollen; chrono¬
logische Narren, welche genau bis auf den Tag Anfang und Ende der Sint-
fluth ausrechnen; und viele andre Arten. Aber die zahlreichste Klasse von
allen bilden doch die orthographischen Narren. Sehr natürlich. Kann es
einen bequemeren Tummelplatz für die Unwissenheit geben, als die Rechtschrei¬
bung der eignen Muttersprache? Ueber sie bildet jeder Hans Taps sich ein,
ein Recht zu haben, mitzureden; und da sich tiefsinnige Skrupel über die Or¬
thographie eines Wortes um so leichter einstellen, je weniger einer gelernt hat,
so tauchen eben immer wieder aufs neue jene wunderlichen Sterblichen aus,
die, ohne die leiseste Ahnung von der geschichtlichen Entwicklung der Sprache
und ohne das geringste Verständniß für die Berechtigung, die in solchen



') Vorschlag zur Feststellung einer einheitlichen Rechtschreibung für Alldeutschland.
An das deuischc Volk, Deutschlands Vertreter und Schulmänner. Von v-'. Danck Sanders.
Berlin. Guttentag. 1873.
Grenzvoten III. 1873. I l
Ich deutschen Aeiches Aechtschreibung.^)

Schon wieder ein Buch über deutsche Rechtschreibung? Giebt es denn
von dieser Sorte Maculatur noch immer nicht genug? so rufst du widerwillig
aus, so oft dir ein literarisches Erzeugniß dieser Art unter die Augen kommt.
Und in der That, dein Abscheu ist begreiflich. Denn sicherlich ist auf keinem
Gebiete wissenschaftlicher Thätigkeit so viel absolute Narrheit zu Tage gefor¬
dert worden, wie auf dem der sogenannten Orthographie. Narren giebt es
ja am Ende und hat es zu allen Zeiten gegeben in den verschiedensten Zwei¬
gen der Wissenschaft: mathematische Narren, die von der Vorsehung mit der
Mission betraut zu sein glauben, das gänzlich veraltete und unbrauchbare
Decimalsystem über den Haufen zu werfen und dafür ein Zwölfer-, Achter¬
oder gar ein Sechsersystem einzuführen; etymologische Narren, die in der ho¬
merischen Odyssee eine Verherrlichung der kunstgerecht betriebenen Schweine¬
zucht erblicken, Odysseus zum Schweinetreiber und Penelope zum Kochkessel
für Rindfleisch machen; lexikalische Narren, die überall Fremdwörter wittern
und selbst die Nase in einen Gesichtserker, das Fenster in einen Tageleuchter
umlaufen möchten; mythologische Narren, welche die gesammte Sagenpoesie
in Naturvorgänge auflösen, Achill für einen Fluß und den troischen Krieg
für weiter nichts als eine große Überschwemmung erklären wollen; chrono¬
logische Narren, welche genau bis auf den Tag Anfang und Ende der Sint-
fluth ausrechnen; und viele andre Arten. Aber die zahlreichste Klasse von
allen bilden doch die orthographischen Narren. Sehr natürlich. Kann es
einen bequemeren Tummelplatz für die Unwissenheit geben, als die Rechtschrei¬
bung der eignen Muttersprache? Ueber sie bildet jeder Hans Taps sich ein,
ein Recht zu haben, mitzureden; und da sich tiefsinnige Skrupel über die Or¬
thographie eines Wortes um so leichter einstellen, je weniger einer gelernt hat,
so tauchen eben immer wieder aufs neue jene wunderlichen Sterblichen aus,
die, ohne die leiseste Ahnung von der geschichtlichen Entwicklung der Sprache
und ohne das geringste Verständniß für die Berechtigung, die in solchen



') Vorschlag zur Feststellung einer einheitlichen Rechtschreibung für Alldeutschland.
An das deuischc Volk, Deutschlands Vertreter und Schulmänner. Von v-'. Danck Sanders.
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[0089] Ich deutschen Aeiches Aechtschreibung.^) Schon wieder ein Buch über deutsche Rechtschreibung? Giebt es denn von dieser Sorte Maculatur noch immer nicht genug? so rufst du widerwillig aus, so oft dir ein literarisches Erzeugniß dieser Art unter die Augen kommt. Und in der That, dein Abscheu ist begreiflich. Denn sicherlich ist auf keinem Gebiete wissenschaftlicher Thätigkeit so viel absolute Narrheit zu Tage gefor¬ dert worden, wie auf dem der sogenannten Orthographie. Narren giebt es ja am Ende und hat es zu allen Zeiten gegeben in den verschiedensten Zwei¬ gen der Wissenschaft: mathematische Narren, die von der Vorsehung mit der Mission betraut zu sein glauben, das gänzlich veraltete und unbrauchbare Decimalsystem über den Haufen zu werfen und dafür ein Zwölfer-, Achter¬ oder gar ein Sechsersystem einzuführen; etymologische Narren, die in der ho¬ merischen Odyssee eine Verherrlichung der kunstgerecht betriebenen Schweine¬ zucht erblicken, Odysseus zum Schweinetreiber und Penelope zum Kochkessel für Rindfleisch machen; lexikalische Narren, die überall Fremdwörter wittern und selbst die Nase in einen Gesichtserker, das Fenster in einen Tageleuchter umlaufen möchten; mythologische Narren, welche die gesammte Sagenpoesie in Naturvorgänge auflösen, Achill für einen Fluß und den troischen Krieg für weiter nichts als eine große Überschwemmung erklären wollen; chrono¬ logische Narren, welche genau bis auf den Tag Anfang und Ende der Sint- fluth ausrechnen; und viele andre Arten. Aber die zahlreichste Klasse von allen bilden doch die orthographischen Narren. Sehr natürlich. Kann es einen bequemeren Tummelplatz für die Unwissenheit geben, als die Rechtschrei¬ bung der eignen Muttersprache? Ueber sie bildet jeder Hans Taps sich ein, ein Recht zu haben, mitzureden; und da sich tiefsinnige Skrupel über die Or¬ thographie eines Wortes um so leichter einstellen, je weniger einer gelernt hat, so tauchen eben immer wieder aufs neue jene wunderlichen Sterblichen aus, die, ohne die leiseste Ahnung von der geschichtlichen Entwicklung der Sprache und ohne das geringste Verständniß für die Berechtigung, die in solchen ') Vorschlag zur Feststellung einer einheitlichen Rechtschreibung für Alldeutschland. An das deuischc Volk, Deutschlands Vertreter und Schulmänner. Von v-'. Danck Sanders. Berlin. Guttentag. 1873. Grenzvoten III. 1873. I l

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/89>, abgerufen am 05.02.2025.