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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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auf jede freiere nationale Regung in Regierungskreisen, daran einen größeren
Antheil als die eigne innere Neigung des Ministers.

Die weitaus wichtigsten Ministerien in den deutschen Einzelstaaten sind
schon jetzt, und werden es immer mehr werden -- in demselben Maaße als
Kriegs-, Justiz-, Verkehrswesen, ja theilweise auch die Finanzen mehr und
mehr der unausbleiblichen Hineinziehung in das Bereich der Reichsgesetzgebung
verfallen -- das des Innern und das des Cultus und öffentlichen Unterrichts.
Die neueste parlamentarische Campagne in Sachsen -- der Landtag 1871/73
-- bewegt sich ganz überwiegend auf diesen beiden Gebieten. Denn die
Steuerfrage, wie immer sie noch entschieden werden mag, wird doch wenig
mehr als ein Experiment, als das Vorstadium einer eingehenderen gesetzgebe¬
rischen Behandlung dieser unendlich schwierigen Materie beim nächsten oder
übernächsten Landtag sein. Dagegen haben die vom Minister des Innern und
vom Cultusminister dem Landtag vorgelegten Gesetze nicht allein diesen am
längsten beschäftigt, die eingreifendsten und leidenschaftlichsten Debatten ver¬
anlaßt, sondern auch, wenigstens was die erstern betrifft, zu Resultaten ge¬
führt, die man als hoffnungsreiche und fruchtbare für das Staats- und Ge¬
Dr. X. I?. meindeleben Sachsens ansehen darf.




Dom preußischen Landtag.

Am 4. Februar stand der Gesetzvorschlag, welchen die zur Berichterstattung
über die vier kirchlichen Vorlagen erwählte Commission eingebracht hat, und
welcher die Abänderung der Artikel 15 und 18 der Verfassung vor Annahme
der kirchlichen Gesetzentwürfe bezweckt, zur dritten Berathung. Die Berathung
änderte, wie vorauszusehen war, so gut wie nichts. Bei der zweiten Berathung
hatten 262 Abgeordnete gegen, 117 für Annahme gestimmt; diesmal stimmten
248 für Annahme gegen 110. Die um 10 Stimmen geringere Majorität bei
der dritten Berathung hatte ihren Grund lediglich in der Abwesenheit einiger
Mitglieder. Nun muß die Abstimmung, weil es sich um eine Verfassungsän¬
derung handelt, nach 21 Tagen wiederholt werden, und es entsteht die Frage,
ob die kirchlichen Gesetzentwürfe im Abgeordnetenhaus bereits zur Berathung
gelangen dürfen, bevor die Verfassungsänderung vollzogen ist. , Vermuthlich
wird diese Frage einen heftigen Streitpunkt mit der klerikalen Partei abgeben.
Diese wird verlangen, daß die kirchlichen Gesetzentwürfe ruhen, bis das neue
Verfassungsrecht gültig geworden ist. Dieses Verlangen wird gestellt werden
in der Hoffnung, das Zustandekommen der kirchlichen Gesetzentwürfe wenigstens


auf jede freiere nationale Regung in Regierungskreisen, daran einen größeren
Antheil als die eigne innere Neigung des Ministers.

Die weitaus wichtigsten Ministerien in den deutschen Einzelstaaten sind
schon jetzt, und werden es immer mehr werden — in demselben Maaße als
Kriegs-, Justiz-, Verkehrswesen, ja theilweise auch die Finanzen mehr und
mehr der unausbleiblichen Hineinziehung in das Bereich der Reichsgesetzgebung
verfallen — das des Innern und das des Cultus und öffentlichen Unterrichts.
Die neueste parlamentarische Campagne in Sachsen — der Landtag 1871/73
— bewegt sich ganz überwiegend auf diesen beiden Gebieten. Denn die
Steuerfrage, wie immer sie noch entschieden werden mag, wird doch wenig
mehr als ein Experiment, als das Vorstadium einer eingehenderen gesetzgebe¬
rischen Behandlung dieser unendlich schwierigen Materie beim nächsten oder
übernächsten Landtag sein. Dagegen haben die vom Minister des Innern und
vom Cultusminister dem Landtag vorgelegten Gesetze nicht allein diesen am
längsten beschäftigt, die eingreifendsten und leidenschaftlichsten Debatten ver¬
anlaßt, sondern auch, wenigstens was die erstern betrifft, zu Resultaten ge¬
führt, die man als hoffnungsreiche und fruchtbare für das Staats- und Ge¬
Dr. X. I?. meindeleben Sachsens ansehen darf.




Dom preußischen Landtag.

Am 4. Februar stand der Gesetzvorschlag, welchen die zur Berichterstattung
über die vier kirchlichen Vorlagen erwählte Commission eingebracht hat, und
welcher die Abänderung der Artikel 15 und 18 der Verfassung vor Annahme
der kirchlichen Gesetzentwürfe bezweckt, zur dritten Berathung. Die Berathung
änderte, wie vorauszusehen war, so gut wie nichts. Bei der zweiten Berathung
hatten 262 Abgeordnete gegen, 117 für Annahme gestimmt; diesmal stimmten
248 für Annahme gegen 110. Die um 10 Stimmen geringere Majorität bei
der dritten Berathung hatte ihren Grund lediglich in der Abwesenheit einiger
Mitglieder. Nun muß die Abstimmung, weil es sich um eine Verfassungsän¬
derung handelt, nach 21 Tagen wiederholt werden, und es entsteht die Frage,
ob die kirchlichen Gesetzentwürfe im Abgeordnetenhaus bereits zur Berathung
gelangen dürfen, bevor die Verfassungsänderung vollzogen ist. , Vermuthlich
wird diese Frage einen heftigen Streitpunkt mit der klerikalen Partei abgeben.
Diese wird verlangen, daß die kirchlichen Gesetzentwürfe ruhen, bis das neue
Verfassungsrecht gültig geworden ist. Dieses Verlangen wird gestellt werden
in der Hoffnung, das Zustandekommen der kirchlichen Gesetzentwürfe wenigstens


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/280>, abgerufen am 24.08.2024.