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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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Auszland in Immer-Mer.

Seit dem Frühjahre spukt der Feldzug Rußlands gegen Chiwa durch die
europäische Presse; man läßt das letzte Khanat, das sich bisher in Mittel¬
asien vom russischen Einflüsse noch frei erhielt, nun auch verschlungen sein.
Daß Chiwa das Blatt der Artischoke ist, welches zunächst an die Reihe kommt
verspeist zu werden, unterliegt wohl keinem Zweifel, doch dürfte erst der nächste
Sommer darüber die Entscheidung bringen. Bisher wurden nur Necognos-
cirungsabtheilungen ausgesandt; die stärkste derselben unter Oberst Markusow
drang im Herbste 1872 nur etwa 40 deutsche Meilen östlich von Krasnowodsk
bis nach Urtakoi vor und kehrte dann zurück. Krasnowodsk ist die vor we¬
nigen Jahren am Ostgestade des kaspischen Meeres angelegte neue Festung,
zu der jetzt noch eine zweite, Tschikischlar, gekommen ist. Dort liegt das rus¬
sische Armeecorps im Winterquartier; im Frühjahr werden wir es Marschiren
sehen, dann ist auch die Cholera in Chiwa erloschen. welche jetzt die Russen
am Vordringen hinderte. Sie können warten. Während sie aber im Winter¬
quartiere liegen, dürfte es für uns am Platze sein, die neue Phase, in welche
die centralasiatischen Angelegenheiten getreten sind, näher zu betrachten. Wir
stützen uns dabei auf russische Quellen; das Journal alö Le. ?6t<zrst>ourA hat
im Verlaufe des Sommers eine große Anzahl Artikel und Aktenstücke über
diesen Gegenstand veröffentlicht, welche sehr orientirend sind und einen besseren
Einblick in die Verhältnisse gewähren, als die meist gefärbten englischen
Berichte.

Die zwischen Rußland und Chiwa bestehenden MißHelligkeiten sind schon
älteren Datums. Chiwa war immer ein unruhiger Nachbar; die russischen
Niederlassungen im Süden der Orenburger Steppe, jene am Ural- und kas¬
pischen See, die Kolonien am untern Syr Daria sind fortwährend den räu¬
berischen Einfällen der Chiwenzen ausgesetzt gewesen. Die kirgisischen wie
turkmenischen Stämme, welche Rußlands Oberhoheit anerkannten, wurden
ebensowohl ausgeplündert, wie der friedliche Fischer aus dem Kaspi oder die
Handelskarawane, die von Orenburg über Kasalinsk nach Bochara zog. Die
Sache war allmählich so schlimm geworden, daß die unter russischem Schutze
lebenden Kirgisen sich mit den Chiwenzen vereinigten, nur um von diesen in


Grenzboten l. 1873. 16
Auszland in Immer-Mer.

Seit dem Frühjahre spukt der Feldzug Rußlands gegen Chiwa durch die
europäische Presse; man läßt das letzte Khanat, das sich bisher in Mittel¬
asien vom russischen Einflüsse noch frei erhielt, nun auch verschlungen sein.
Daß Chiwa das Blatt der Artischoke ist, welches zunächst an die Reihe kommt
verspeist zu werden, unterliegt wohl keinem Zweifel, doch dürfte erst der nächste
Sommer darüber die Entscheidung bringen. Bisher wurden nur Necognos-
cirungsabtheilungen ausgesandt; die stärkste derselben unter Oberst Markusow
drang im Herbste 1872 nur etwa 40 deutsche Meilen östlich von Krasnowodsk
bis nach Urtakoi vor und kehrte dann zurück. Krasnowodsk ist die vor we¬
nigen Jahren am Ostgestade des kaspischen Meeres angelegte neue Festung,
zu der jetzt noch eine zweite, Tschikischlar, gekommen ist. Dort liegt das rus¬
sische Armeecorps im Winterquartier; im Frühjahr werden wir es Marschiren
sehen, dann ist auch die Cholera in Chiwa erloschen. welche jetzt die Russen
am Vordringen hinderte. Sie können warten. Während sie aber im Winter¬
quartiere liegen, dürfte es für uns am Platze sein, die neue Phase, in welche
die centralasiatischen Angelegenheiten getreten sind, näher zu betrachten. Wir
stützen uns dabei auf russische Quellen; das Journal alö Le. ?6t<zrst>ourA hat
im Verlaufe des Sommers eine große Anzahl Artikel und Aktenstücke über
diesen Gegenstand veröffentlicht, welche sehr orientirend sind und einen besseren
Einblick in die Verhältnisse gewähren, als die meist gefärbten englischen
Berichte.

Die zwischen Rußland und Chiwa bestehenden MißHelligkeiten sind schon
älteren Datums. Chiwa war immer ein unruhiger Nachbar; die russischen
Niederlassungen im Süden der Orenburger Steppe, jene am Ural- und kas¬
pischen See, die Kolonien am untern Syr Daria sind fortwährend den räu¬
berischen Einfällen der Chiwenzen ausgesetzt gewesen. Die kirgisischen wie
turkmenischen Stämme, welche Rußlands Oberhoheit anerkannten, wurden
ebensowohl ausgeplündert, wie der friedliche Fischer aus dem Kaspi oder die
Handelskarawane, die von Orenburg über Kasalinsk nach Bochara zog. Die
Sache war allmählich so schlimm geworden, daß die unter russischem Schutze
lebenden Kirgisen sich mit den Chiwenzen vereinigten, nur um von diesen in


Grenzboten l. 1873. 16
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[0129] Auszland in Immer-Mer. Seit dem Frühjahre spukt der Feldzug Rußlands gegen Chiwa durch die europäische Presse; man läßt das letzte Khanat, das sich bisher in Mittel¬ asien vom russischen Einflüsse noch frei erhielt, nun auch verschlungen sein. Daß Chiwa das Blatt der Artischoke ist, welches zunächst an die Reihe kommt verspeist zu werden, unterliegt wohl keinem Zweifel, doch dürfte erst der nächste Sommer darüber die Entscheidung bringen. Bisher wurden nur Necognos- cirungsabtheilungen ausgesandt; die stärkste derselben unter Oberst Markusow drang im Herbste 1872 nur etwa 40 deutsche Meilen östlich von Krasnowodsk bis nach Urtakoi vor und kehrte dann zurück. Krasnowodsk ist die vor we¬ nigen Jahren am Ostgestade des kaspischen Meeres angelegte neue Festung, zu der jetzt noch eine zweite, Tschikischlar, gekommen ist. Dort liegt das rus¬ sische Armeecorps im Winterquartier; im Frühjahr werden wir es Marschiren sehen, dann ist auch die Cholera in Chiwa erloschen. welche jetzt die Russen am Vordringen hinderte. Sie können warten. Während sie aber im Winter¬ quartiere liegen, dürfte es für uns am Platze sein, die neue Phase, in welche die centralasiatischen Angelegenheiten getreten sind, näher zu betrachten. Wir stützen uns dabei auf russische Quellen; das Journal alö Le. ?6t<zrst>ourA hat im Verlaufe des Sommers eine große Anzahl Artikel und Aktenstücke über diesen Gegenstand veröffentlicht, welche sehr orientirend sind und einen besseren Einblick in die Verhältnisse gewähren, als die meist gefärbten englischen Berichte. Die zwischen Rußland und Chiwa bestehenden MißHelligkeiten sind schon älteren Datums. Chiwa war immer ein unruhiger Nachbar; die russischen Niederlassungen im Süden der Orenburger Steppe, jene am Ural- und kas¬ pischen See, die Kolonien am untern Syr Daria sind fortwährend den räu¬ berischen Einfällen der Chiwenzen ausgesetzt gewesen. Die kirgisischen wie turkmenischen Stämme, welche Rußlands Oberhoheit anerkannten, wurden ebensowohl ausgeplündert, wie der friedliche Fischer aus dem Kaspi oder die Handelskarawane, die von Orenburg über Kasalinsk nach Bochara zog. Die Sache war allmählich so schlimm geworden, daß die unter russischem Schutze lebenden Kirgisen sich mit den Chiwenzen vereinigten, nur um von diesen in Grenzboten l. 1873. 16

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/129>, abgerufen am 24.08.2024.