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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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Aas deutsche Mbttcum und die altnordische Literatur
von
H. Rückert.

Kühle Reserve auf unserer Seite, leidenschaftliche Abneigung auf der
andern, das ist das Bild des gegenwärtigen Verhältnisses zwischen uns Deut¬
schen und unsern nächsten Stammverwandten im Norden. Es ereignet sich
eben auch in den blutsverwandten Völkerfamilien dasselbe, was in den Privat¬
familien so oft zu geschehen pflegt: die Gemeinsamkeit des Typus und der
Anlage, die Identität aller wesentlichen Interessen dient gelegentlich nur dazu
um die relativ unbedeutenden Gegensätze der Individuen bis zu unversöhn¬
licher Feindseligkeit zu verschärfen. Moralpredigten und vernünftige Vor¬
stellungen vermögen bekanntlich nichts gegen solche psychische Krankheitszu¬
stände. Man muß sie dem Laufe der Zeit und der Entwickelung der Zukunft
überlassen, die dafür jedenfalls einmal das Wort der Lösung und Heilung
finden werden. Auch sehen wir uns in der glücklichen Lage, die Verstimmung
unserer Vettern zwar bedauern, aber nicht fürchten zu dürfen, ein Umstand,
der freilich wieder nicht wenig dazu beiträgt das Zornfeuer derselben zu
schüren. Denn oäöi'int, aum imztuavt ist zwar ein guter Spruch für den, der
berechtigt ist sich damit zu trösten, aber keineswegs ein Beruhigungsmittel
für den andern. So lange die radicalen Literaten in Kopenhagen und ihre
Schweifträger in Stockholm und Christian!" den deutschen Michel verbaliter
und realiter ungestraft insultiren dursten, überwog der hochmüthige Kitzel ihrer
künstlich aufgeputzten Selbstvergötterung jedes andere Gefühl, auch das der
Gehässigkeit. Daß dies seit 1864 anders geworden ist, versteht sich von selbst,
auch, was die Hauptsache bleibt, daß wir selbst dabei so viel besser fahren.
Jene vorsündfluthlichen Duseleien von dem deutschen Admiralitätsstaate Däne¬
mark, von der pangermanischen Union, in der auch die Renthiere und Seehunde
Islands zu Participiren berufen sein sollten, sind wie so viel anderer ungesun¬
der Nebel vor dem luftreinigenden Kanonendonner von Düppel und Alsen
zerstoben. Durch Königgrätz und Sedan, wo dasselbe Universalmittel noch viel
drastischer zur Wirkung gelangt ist, sind unsere skandinavischen Vettern zwar
nicht zur Vernunft, wohl aber ebenso gut wie Oesterreicher und Franzosen


WrcnMen III. 1872. 11
Aas deutsche Mbttcum und die altnordische Literatur
von
H. Rückert.

Kühle Reserve auf unserer Seite, leidenschaftliche Abneigung auf der
andern, das ist das Bild des gegenwärtigen Verhältnisses zwischen uns Deut¬
schen und unsern nächsten Stammverwandten im Norden. Es ereignet sich
eben auch in den blutsverwandten Völkerfamilien dasselbe, was in den Privat¬
familien so oft zu geschehen pflegt: die Gemeinsamkeit des Typus und der
Anlage, die Identität aller wesentlichen Interessen dient gelegentlich nur dazu
um die relativ unbedeutenden Gegensätze der Individuen bis zu unversöhn¬
licher Feindseligkeit zu verschärfen. Moralpredigten und vernünftige Vor¬
stellungen vermögen bekanntlich nichts gegen solche psychische Krankheitszu¬
stände. Man muß sie dem Laufe der Zeit und der Entwickelung der Zukunft
überlassen, die dafür jedenfalls einmal das Wort der Lösung und Heilung
finden werden. Auch sehen wir uns in der glücklichen Lage, die Verstimmung
unserer Vettern zwar bedauern, aber nicht fürchten zu dürfen, ein Umstand,
der freilich wieder nicht wenig dazu beiträgt das Zornfeuer derselben zu
schüren. Denn oäöi'int, aum imztuavt ist zwar ein guter Spruch für den, der
berechtigt ist sich damit zu trösten, aber keineswegs ein Beruhigungsmittel
für den andern. So lange die radicalen Literaten in Kopenhagen und ihre
Schweifträger in Stockholm und Christian!« den deutschen Michel verbaliter
und realiter ungestraft insultiren dursten, überwog der hochmüthige Kitzel ihrer
künstlich aufgeputzten Selbstvergötterung jedes andere Gefühl, auch das der
Gehässigkeit. Daß dies seit 1864 anders geworden ist, versteht sich von selbst,
auch, was die Hauptsache bleibt, daß wir selbst dabei so viel besser fahren.
Jene vorsündfluthlichen Duseleien von dem deutschen Admiralitätsstaate Däne¬
mark, von der pangermanischen Union, in der auch die Renthiere und Seehunde
Islands zu Participiren berufen sein sollten, sind wie so viel anderer ungesun¬
der Nebel vor dem luftreinigenden Kanonendonner von Düppel und Alsen
zerstoben. Durch Königgrätz und Sedan, wo dasselbe Universalmittel noch viel
drastischer zur Wirkung gelangt ist, sind unsere skandinavischen Vettern zwar
nicht zur Vernunft, wohl aber ebenso gut wie Oesterreicher und Franzosen


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[0089] Aas deutsche Mbttcum und die altnordische Literatur von H. Rückert. Kühle Reserve auf unserer Seite, leidenschaftliche Abneigung auf der andern, das ist das Bild des gegenwärtigen Verhältnisses zwischen uns Deut¬ schen und unsern nächsten Stammverwandten im Norden. Es ereignet sich eben auch in den blutsverwandten Völkerfamilien dasselbe, was in den Privat¬ familien so oft zu geschehen pflegt: die Gemeinsamkeit des Typus und der Anlage, die Identität aller wesentlichen Interessen dient gelegentlich nur dazu um die relativ unbedeutenden Gegensätze der Individuen bis zu unversöhn¬ licher Feindseligkeit zu verschärfen. Moralpredigten und vernünftige Vor¬ stellungen vermögen bekanntlich nichts gegen solche psychische Krankheitszu¬ stände. Man muß sie dem Laufe der Zeit und der Entwickelung der Zukunft überlassen, die dafür jedenfalls einmal das Wort der Lösung und Heilung finden werden. Auch sehen wir uns in der glücklichen Lage, die Verstimmung unserer Vettern zwar bedauern, aber nicht fürchten zu dürfen, ein Umstand, der freilich wieder nicht wenig dazu beiträgt das Zornfeuer derselben zu schüren. Denn oäöi'int, aum imztuavt ist zwar ein guter Spruch für den, der berechtigt ist sich damit zu trösten, aber keineswegs ein Beruhigungsmittel für den andern. So lange die radicalen Literaten in Kopenhagen und ihre Schweifträger in Stockholm und Christian!« den deutschen Michel verbaliter und realiter ungestraft insultiren dursten, überwog der hochmüthige Kitzel ihrer künstlich aufgeputzten Selbstvergötterung jedes andere Gefühl, auch das der Gehässigkeit. Daß dies seit 1864 anders geworden ist, versteht sich von selbst, auch, was die Hauptsache bleibt, daß wir selbst dabei so viel besser fahren. Jene vorsündfluthlichen Duseleien von dem deutschen Admiralitätsstaate Däne¬ mark, von der pangermanischen Union, in der auch die Renthiere und Seehunde Islands zu Participiren berufen sein sollten, sind wie so viel anderer ungesun¬ der Nebel vor dem luftreinigenden Kanonendonner von Düppel und Alsen zerstoben. Durch Königgrätz und Sedan, wo dasselbe Universalmittel noch viel drastischer zur Wirkung gelangt ist, sind unsere skandinavischen Vettern zwar nicht zur Vernunft, wohl aber ebenso gut wie Oesterreicher und Franzosen WrcnMen III. 1872. 11

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/89>, abgerufen am 30.12.2024.