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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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Vertretung (der Wahlkammer) sich in der entschiedensten Minorität befinden
würde.

Und das geschieht in einem Augenblicke/ wo die Ergänzungswahlen für
die Volkskammer vor der Thür stehen, und wo aller Wahrscheinlichkeit nach
der Ausfall dieser Ergänzungswahlen den beiden liberalen Parteien in der Kam¬
mer, den National-Liberalen und dem Fortschritt, zusammen eine zweifellose und
feste Majorität geben wird!




Berliner Iriefe.

Wie Vögel, welche das Schiff umflatternd,
dem Seefahrer die Nähe des Landes anzeigen, so taucht jetzt hier ein und
das andere bekannte, lange nicht gesehene Gesicht auf und verkündet: Land!
Die erste Hälfte der Reisesaison ist vorüber, es gibt Leute , welche zurück¬
kommen und die todte Jahreszeit geht ihrem Ende entgegen. Selbst der
Reichskanzler, so mächtig er ist, konnte sich dem Einfluß" dieser verhängniß-
vollen Zeit nicht entziehen. Sein Euere'e hier war brillant und dennoch hat
es lange nicht den Effect gemacht, welchen er voraussetzen durfte. Er donnerte
und blitzte, wie Jupiter, aber das Unwetter war local, auf einen gewissen
kleinen Familienkreis beschränkt. Es fehlt am Publicum, welches niemals
durch das Bischen Geräusch, das die Zeitungen machen, ersetzt werden kann.
Die Genesis des kurzen Drama's soll komisch gewesen sein. Während näm¬
lich in Berlin alle Welt über die Artikel der Nordd. Allg. Zeit, den Kops
schüttelte, während die Germania triumphirte, war durch irgend ein Versehen
die gefährliche Nummer nicht nach Varzin gekommen. Die Berliner Presse,
ärgerlich auf die Eisenbahndireetionen, die sie nicht zu den Festlichkeiten ihrer
Generalversammlung geladen, wollte die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen,
ohne den Eisenbahnverwaltungen einen Hieb zu versetzen, denn sie allein
könnten an einem solchen Mißgeschick Schuld sein. Aber das ist ungerecht.
In früheren Jahren soll es zwar einmal vorgekommen sein, daß der Herr
von Varzin den Karlsbader, den er dort trinken sollte und den man ver¬
trauensvoll als Fracht auf die Eisenbahn gegeben hatte, erst erhielt, als er
wieder abreisen mußte, aber ein Zeitungsblatt kann auf hunderterlei Weise
verloren gehen, ohne daß eine Eisenbahnverwaltung daran Schuld haben
muß und die norddeutsche war unfindbar. Die Berliner Zeitungen sind voll
Bemerkungen und Anspielungen auf einen Artikel, den man nicht kennt. So
etwas steigert die Spannung und vermehrt die üble Laune und diesen Zu¬
fälligkeiten mag es zum Theil zu verdanken sein, daß das Desaveu, welches
schließlich vom Reichsanzeiger der Norddeutschen zu Theil wurde, so massiv
ausfiel. Dazu kamen noch die schlechten Nachrichten aus Frankreich und aus
Frankfurt. In Frankfurt rückten die Verhandlungen schon lange nicht vom
Fleck, in Frankreich mehrten sich die Attentate gegen unsere Truppen und
der Vorfall in Poligny, der übrigens amtlich noch nicht einmal bestätigt ist,
schien fo flagrant, daß es angemessen gehalten wurde, energisch vorzugehen
vorläufig nur auf dem Papier -- und es wurde so energisch vorgegangen,


Vertretung (der Wahlkammer) sich in der entschiedensten Minorität befinden
würde.

Und das geschieht in einem Augenblicke/ wo die Ergänzungswahlen für
die Volkskammer vor der Thür stehen, und wo aller Wahrscheinlichkeit nach
der Ausfall dieser Ergänzungswahlen den beiden liberalen Parteien in der Kam¬
mer, den National-Liberalen und dem Fortschritt, zusammen eine zweifellose und
feste Majorität geben wird!




Berliner Iriefe.

Wie Vögel, welche das Schiff umflatternd,
dem Seefahrer die Nähe des Landes anzeigen, so taucht jetzt hier ein und
das andere bekannte, lange nicht gesehene Gesicht auf und verkündet: Land!
Die erste Hälfte der Reisesaison ist vorüber, es gibt Leute , welche zurück¬
kommen und die todte Jahreszeit geht ihrem Ende entgegen. Selbst der
Reichskanzler, so mächtig er ist, konnte sich dem Einfluß" dieser verhängniß-
vollen Zeit nicht entziehen. Sein Euere'e hier war brillant und dennoch hat
es lange nicht den Effect gemacht, welchen er voraussetzen durfte. Er donnerte
und blitzte, wie Jupiter, aber das Unwetter war local, auf einen gewissen
kleinen Familienkreis beschränkt. Es fehlt am Publicum, welches niemals
durch das Bischen Geräusch, das die Zeitungen machen, ersetzt werden kann.
Die Genesis des kurzen Drama's soll komisch gewesen sein. Während näm¬
lich in Berlin alle Welt über die Artikel der Nordd. Allg. Zeit, den Kops
schüttelte, während die Germania triumphirte, war durch irgend ein Versehen
die gefährliche Nummer nicht nach Varzin gekommen. Die Berliner Presse,
ärgerlich auf die Eisenbahndireetionen, die sie nicht zu den Festlichkeiten ihrer
Generalversammlung geladen, wollte die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen,
ohne den Eisenbahnverwaltungen einen Hieb zu versetzen, denn sie allein
könnten an einem solchen Mißgeschick Schuld sein. Aber das ist ungerecht.
In früheren Jahren soll es zwar einmal vorgekommen sein, daß der Herr
von Varzin den Karlsbader, den er dort trinken sollte und den man ver¬
trauensvoll als Fracht auf die Eisenbahn gegeben hatte, erst erhielt, als er
wieder abreisen mußte, aber ein Zeitungsblatt kann auf hunderterlei Weise
verloren gehen, ohne daß eine Eisenbahnverwaltung daran Schuld haben
muß und die norddeutsche war unfindbar. Die Berliner Zeitungen sind voll
Bemerkungen und Anspielungen auf einen Artikel, den man nicht kennt. So
etwas steigert die Spannung und vermehrt die üble Laune und diesen Zu¬
fälligkeiten mag es zum Theil zu verdanken sein, daß das Desaveu, welches
schließlich vom Reichsanzeiger der Norddeutschen zu Theil wurde, so massiv
ausfiel. Dazu kamen noch die schlechten Nachrichten aus Frankreich und aus
Frankfurt. In Frankfurt rückten die Verhandlungen schon lange nicht vom
Fleck, in Frankreich mehrten sich die Attentate gegen unsere Truppen und
der Vorfall in Poligny, der übrigens amtlich noch nicht einmal bestätigt ist,
schien fo flagrant, daß es angemessen gehalten wurde, energisch vorzugehen
vorläufig nur auf dem Papier — und es wurde so energisch vorgegangen,


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[0367] Vertretung (der Wahlkammer) sich in der entschiedensten Minorität befinden würde. Und das geschieht in einem Augenblicke/ wo die Ergänzungswahlen für die Volkskammer vor der Thür stehen, und wo aller Wahrscheinlichkeit nach der Ausfall dieser Ergänzungswahlen den beiden liberalen Parteien in der Kam¬ mer, den National-Liberalen und dem Fortschritt, zusammen eine zweifellose und feste Majorität geben wird! Berliner Iriefe. Wie Vögel, welche das Schiff umflatternd, dem Seefahrer die Nähe des Landes anzeigen, so taucht jetzt hier ein und das andere bekannte, lange nicht gesehene Gesicht auf und verkündet: Land! Die erste Hälfte der Reisesaison ist vorüber, es gibt Leute , welche zurück¬ kommen und die todte Jahreszeit geht ihrem Ende entgegen. Selbst der Reichskanzler, so mächtig er ist, konnte sich dem Einfluß" dieser verhängniß- vollen Zeit nicht entziehen. Sein Euere'e hier war brillant und dennoch hat es lange nicht den Effect gemacht, welchen er voraussetzen durfte. Er donnerte und blitzte, wie Jupiter, aber das Unwetter war local, auf einen gewissen kleinen Familienkreis beschränkt. Es fehlt am Publicum, welches niemals durch das Bischen Geräusch, das die Zeitungen machen, ersetzt werden kann. Die Genesis des kurzen Drama's soll komisch gewesen sein. Während näm¬ lich in Berlin alle Welt über die Artikel der Nordd. Allg. Zeit, den Kops schüttelte, während die Germania triumphirte, war durch irgend ein Versehen die gefährliche Nummer nicht nach Varzin gekommen. Die Berliner Presse, ärgerlich auf die Eisenbahndireetionen, die sie nicht zu den Festlichkeiten ihrer Generalversammlung geladen, wollte die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, ohne den Eisenbahnverwaltungen einen Hieb zu versetzen, denn sie allein könnten an einem solchen Mißgeschick Schuld sein. Aber das ist ungerecht. In früheren Jahren soll es zwar einmal vorgekommen sein, daß der Herr von Varzin den Karlsbader, den er dort trinken sollte und den man ver¬ trauensvoll als Fracht auf die Eisenbahn gegeben hatte, erst erhielt, als er wieder abreisen mußte, aber ein Zeitungsblatt kann auf hunderterlei Weise verloren gehen, ohne daß eine Eisenbahnverwaltung daran Schuld haben muß und die norddeutsche war unfindbar. Die Berliner Zeitungen sind voll Bemerkungen und Anspielungen auf einen Artikel, den man nicht kennt. So etwas steigert die Spannung und vermehrt die üble Laune und diesen Zu¬ fälligkeiten mag es zum Theil zu verdanken sein, daß das Desaveu, welches schließlich vom Reichsanzeiger der Norddeutschen zu Theil wurde, so massiv ausfiel. Dazu kamen noch die schlechten Nachrichten aus Frankreich und aus Frankfurt. In Frankfurt rückten die Verhandlungen schon lange nicht vom Fleck, in Frankreich mehrten sich die Attentate gegen unsere Truppen und der Vorfall in Poligny, der übrigens amtlich noch nicht einmal bestätigt ist, schien fo flagrant, daß es angemessen gehalten wurde, energisch vorzugehen vorläufig nur auf dem Papier — und es wurde so energisch vorgegangen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/367>, abgerufen am 24.07.2024.