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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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Am Heschichte der politischen Literatur Deutschlands
1806--1808.
Von Franz Schmorr v. Carolsfeld.

Obgleich die Geschichtschreibung längst der Periode der deutschen Freiheits¬
kriege sich bemächtigt und eine Reihe von ihrer Aufgabe würdigen Leistungen
hervorgebracht hat, so fehlt es doch noch an einer häuslichen Geschichte der
Zeit der Aufrichtung und des Sturzes der französischen Herrschaft, an einer
Darstellung, in welcher weniger die Ereignisse der großen Politik und die
kriegerischen Schicksale der Nation an sich, als die Art, wie sich dieselben in
den Gemüthern abspiegeln, ins Auge gefaßt sind. Eine solche Darstellung ist
aber unentbehrlich, um die ganze Tiefe des Verfalls unsers Volkes zu ermes¬
sen, die Gefahren seiner Lage mit Lebhaftigkeit zur Anschauung zu bringen
und die Anstrengungen der Erhebung richtig zu würdigen.

In einer Zeit, wo unsere Nation ihren letzten Schutz in der Bewahrung
und Hochhaltung der allgemein menschlichen Tugenden besaß, wo jeder Ein¬
zelne in seinem Kreise durch Erhaltung der Achtung vor sich selbst und seinen
eigenen Bestrebungen dem Vaterlande einen Dienst erwies, hatte das Wort
des Schriftstellers einen höheren Beruf als je zuvor. Aber politische Ver¬
blendung und tyrannische Gewalt vereinigten sich, um die Zahl derer, welche
diesen Beruf erfaßten, zu einer kleinen zu machen.

Männer, die mit der Festigkeit einer geschlossenen Partei der Herrschaft
der Franzosen entgegenstanden, durfte man nur innerhalb des preußischen
Staates suchen. Helfer gab es genug. In der Zahl der Gleichgültigen be¬
fanden sich Solche, deren Resignation einer Niederlage der deutschen Sache
gleichkam. Der große Vertreter der für die Förderung des Gefühls von
deutscher Einheit bereits so wichtig gewordenen classischen Literatur, Goethe,
dieser echteste Sohn des Vaterlandes, der durch seine Werke die Stellung der
deutschen Nation im Leben und dereinst bei der Nachwelt neu begründen und
befestigen half, verdammte sich selbst zu gelassenen Dulden. Ihn dünkte die
Zeit der Art, daß er (wie er an Fr. Perthes schrieb, als dieser ihn zu Bei¬
trägen für sein "Vaterländisches Museum" aufforderte) "sie immer gern eine
Weile vorüberließ, um zu ihr oder von ihr zu sprechen." Johannes von
Müller, der noch zu Anfang des Jahres 1806 öffentlich geäußert hatte (in
seiner Selbstbiographie in S. M. Lowes Bildnissen jetztlebender Berliner Ge¬
lehrten), seine Kraft werde dem Ruhm und Glück des preußischen Staates
und seiner großen Zwecke in dem ihm noch übrigen Leben gewidmet sein,
schrieb am 18. December an C. A. Böttiger"Man muß sich gleichsam um¬
denken, es mag wie jede Umwandlung schwer sein, doch geht's, wenn man es


Am Heschichte der politischen Literatur Deutschlands
1806—1808.
Von Franz Schmorr v. Carolsfeld.

Obgleich die Geschichtschreibung längst der Periode der deutschen Freiheits¬
kriege sich bemächtigt und eine Reihe von ihrer Aufgabe würdigen Leistungen
hervorgebracht hat, so fehlt es doch noch an einer häuslichen Geschichte der
Zeit der Aufrichtung und des Sturzes der französischen Herrschaft, an einer
Darstellung, in welcher weniger die Ereignisse der großen Politik und die
kriegerischen Schicksale der Nation an sich, als die Art, wie sich dieselben in
den Gemüthern abspiegeln, ins Auge gefaßt sind. Eine solche Darstellung ist
aber unentbehrlich, um die ganze Tiefe des Verfalls unsers Volkes zu ermes¬
sen, die Gefahren seiner Lage mit Lebhaftigkeit zur Anschauung zu bringen
und die Anstrengungen der Erhebung richtig zu würdigen.

In einer Zeit, wo unsere Nation ihren letzten Schutz in der Bewahrung
und Hochhaltung der allgemein menschlichen Tugenden besaß, wo jeder Ein¬
zelne in seinem Kreise durch Erhaltung der Achtung vor sich selbst und seinen
eigenen Bestrebungen dem Vaterlande einen Dienst erwies, hatte das Wort
des Schriftstellers einen höheren Beruf als je zuvor. Aber politische Ver¬
blendung und tyrannische Gewalt vereinigten sich, um die Zahl derer, welche
diesen Beruf erfaßten, zu einer kleinen zu machen.

Männer, die mit der Festigkeit einer geschlossenen Partei der Herrschaft
der Franzosen entgegenstanden, durfte man nur innerhalb des preußischen
Staates suchen. Helfer gab es genug. In der Zahl der Gleichgültigen be¬
fanden sich Solche, deren Resignation einer Niederlage der deutschen Sache
gleichkam. Der große Vertreter der für die Förderung des Gefühls von
deutscher Einheit bereits so wichtig gewordenen classischen Literatur, Goethe,
dieser echteste Sohn des Vaterlandes, der durch seine Werke die Stellung der
deutschen Nation im Leben und dereinst bei der Nachwelt neu begründen und
befestigen half, verdammte sich selbst zu gelassenen Dulden. Ihn dünkte die
Zeit der Art, daß er (wie er an Fr. Perthes schrieb, als dieser ihn zu Bei¬
trägen für sein „Vaterländisches Museum" aufforderte) „sie immer gern eine
Weile vorüberließ, um zu ihr oder von ihr zu sprechen." Johannes von
Müller, der noch zu Anfang des Jahres 1806 öffentlich geäußert hatte (in
seiner Selbstbiographie in S. M. Lowes Bildnissen jetztlebender Berliner Ge¬
lehrten), seine Kraft werde dem Ruhm und Glück des preußischen Staates
und seiner großen Zwecke in dem ihm noch übrigen Leben gewidmet sein,
schrieb am 18. December an C. A. Böttiger„Man muß sich gleichsam um¬
denken, es mag wie jede Umwandlung schwer sein, doch geht's, wenn man es


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[0350] Am Heschichte der politischen Literatur Deutschlands 1806—1808. Von Franz Schmorr v. Carolsfeld. Obgleich die Geschichtschreibung längst der Periode der deutschen Freiheits¬ kriege sich bemächtigt und eine Reihe von ihrer Aufgabe würdigen Leistungen hervorgebracht hat, so fehlt es doch noch an einer häuslichen Geschichte der Zeit der Aufrichtung und des Sturzes der französischen Herrschaft, an einer Darstellung, in welcher weniger die Ereignisse der großen Politik und die kriegerischen Schicksale der Nation an sich, als die Art, wie sich dieselben in den Gemüthern abspiegeln, ins Auge gefaßt sind. Eine solche Darstellung ist aber unentbehrlich, um die ganze Tiefe des Verfalls unsers Volkes zu ermes¬ sen, die Gefahren seiner Lage mit Lebhaftigkeit zur Anschauung zu bringen und die Anstrengungen der Erhebung richtig zu würdigen. In einer Zeit, wo unsere Nation ihren letzten Schutz in der Bewahrung und Hochhaltung der allgemein menschlichen Tugenden besaß, wo jeder Ein¬ zelne in seinem Kreise durch Erhaltung der Achtung vor sich selbst und seinen eigenen Bestrebungen dem Vaterlande einen Dienst erwies, hatte das Wort des Schriftstellers einen höheren Beruf als je zuvor. Aber politische Ver¬ blendung und tyrannische Gewalt vereinigten sich, um die Zahl derer, welche diesen Beruf erfaßten, zu einer kleinen zu machen. Männer, die mit der Festigkeit einer geschlossenen Partei der Herrschaft der Franzosen entgegenstanden, durfte man nur innerhalb des preußischen Staates suchen. Helfer gab es genug. In der Zahl der Gleichgültigen be¬ fanden sich Solche, deren Resignation einer Niederlage der deutschen Sache gleichkam. Der große Vertreter der für die Förderung des Gefühls von deutscher Einheit bereits so wichtig gewordenen classischen Literatur, Goethe, dieser echteste Sohn des Vaterlandes, der durch seine Werke die Stellung der deutschen Nation im Leben und dereinst bei der Nachwelt neu begründen und befestigen half, verdammte sich selbst zu gelassenen Dulden. Ihn dünkte die Zeit der Art, daß er (wie er an Fr. Perthes schrieb, als dieser ihn zu Bei¬ trägen für sein „Vaterländisches Museum" aufforderte) „sie immer gern eine Weile vorüberließ, um zu ihr oder von ihr zu sprechen." Johannes von Müller, der noch zu Anfang des Jahres 1806 öffentlich geäußert hatte (in seiner Selbstbiographie in S. M. Lowes Bildnissen jetztlebender Berliner Ge¬ lehrten), seine Kraft werde dem Ruhm und Glück des preußischen Staates und seiner großen Zwecke in dem ihm noch übrigen Leben gewidmet sein, schrieb am 18. December an C. A. Böttiger„Man muß sich gleichsam um¬ denken, es mag wie jede Umwandlung schwer sein, doch geht's, wenn man es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/350>, abgerufen am 24.07.2024.