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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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Die bürgerlichen Ehrenrechte vor dem Strafrichter.

Der Fortschritt deutscher Strafgesetzgebung scheint sich nach dem Ent-
würfe des Bundes-Strafgesetzbuchs, wie er aus der zweiten Lesung des Reichs¬
tages hervorgegangen ist, hauptsächlich in drei Richtungen vollziehen zu sollen:
durch die Abschaffung der Todesstrafe, durch gesetzliche Regelung der Voll-
streckung von Freiheitsstrafen, -- worauf sich die vom Reichstage zum § 19 der
Vorlage angenommene Resolution bezieht -- und durch mildere Bestrafung
einzelner Verbrechen und Vergehen. Es gibt aber noch andere Bestimmun¬
gen der deutschen Strafgesetze, welche der Reform bedürfen, die ihnen, wie es
scheint, dieses Mal noch nicht zu Theil werden soll. Während der Streit
über die Todesstrafe die Kämpfenden erregt, schlüpfen gewisse geringere Straf¬
arten weniger beachtet aus dem alten Gesetze in das neue hinüber. Zwar
über die Geldstrafe ist im Reichstage mit Einsicht gesprochen worden.
Sie mag das geeignete Mittel zur Ahndung einer im Verbrechen hervorge¬
tretenen gewinnsüchtigen Absicht sein. Aber sie findet in unseren Strafge¬
setzen eine weit allgemeinere Anwendung, namentlich bei den Übertretungen,
obwohl es gewiß ist, daß sie den Thäter, je nach seinem Vermögen, mit
höchst ungleicher Wirkung trifft. Selbst wenn es möglich wäre, die Strafe
in jedem Falle nach dem Verhältniß des Vermögens abzumessen, -- was
natürlich nicht möglich ist, -- so würde dadurch die Ungleichheit keineswegs
gehoben sein. Denn der Arme bezahlt die Geldbuße von seinem nothdürf¬
tigen, der Reiche von seinem Ueberflusse. Es ist unrichtig, daß die Geldbuße
schlechthin die gelindeste Strafe sei. Der Arme wandert lieber in das Ge¬
fängniß, als daß er darbt. Da nun auch, wenn er die Mittel zur Erlegung
der Geldstrafe nicht besitzt, die Freiheitsstrafe an deren Stelle tritt, so
wird für ihn die letztere die allgemeine, während doch die Freiheit für ihn
denselben Werth hat, wie für den Vermögenden.

Eine andere Strafart von zweifelhafter Berechtigung ist der Verlust der
bürgerlichen Ehrenrechte. Sie tritt im EntWurfe nicht als selbständige
Strafe, sondern als sogenannte Nebenstrafe auf. Die Verhängung derselben
soll in jedem einzelnen Falle dem Ermessen des Richters überlassen bleiben.
Sie kann verhängt werden neben der Todesstrafe (nach der Bundespräsidial-
vorlage), der Zuchthausstrafe und einer auf mindestens drei Monate er¬
kannten Gefängnißstrafe, neben der letztgedachten jedoch nur in den vom
Gesetze vorgesehenen Fällen, oder wenn die Gefängnißstrafe in Folge der An-


Greuzboten it. 1870. 29
Die bürgerlichen Ehrenrechte vor dem Strafrichter.

Der Fortschritt deutscher Strafgesetzgebung scheint sich nach dem Ent-
würfe des Bundes-Strafgesetzbuchs, wie er aus der zweiten Lesung des Reichs¬
tages hervorgegangen ist, hauptsächlich in drei Richtungen vollziehen zu sollen:
durch die Abschaffung der Todesstrafe, durch gesetzliche Regelung der Voll-
streckung von Freiheitsstrafen, — worauf sich die vom Reichstage zum § 19 der
Vorlage angenommene Resolution bezieht — und durch mildere Bestrafung
einzelner Verbrechen und Vergehen. Es gibt aber noch andere Bestimmun¬
gen der deutschen Strafgesetze, welche der Reform bedürfen, die ihnen, wie es
scheint, dieses Mal noch nicht zu Theil werden soll. Während der Streit
über die Todesstrafe die Kämpfenden erregt, schlüpfen gewisse geringere Straf¬
arten weniger beachtet aus dem alten Gesetze in das neue hinüber. Zwar
über die Geldstrafe ist im Reichstage mit Einsicht gesprochen worden.
Sie mag das geeignete Mittel zur Ahndung einer im Verbrechen hervorge¬
tretenen gewinnsüchtigen Absicht sein. Aber sie findet in unseren Strafge¬
setzen eine weit allgemeinere Anwendung, namentlich bei den Übertretungen,
obwohl es gewiß ist, daß sie den Thäter, je nach seinem Vermögen, mit
höchst ungleicher Wirkung trifft. Selbst wenn es möglich wäre, die Strafe
in jedem Falle nach dem Verhältniß des Vermögens abzumessen, — was
natürlich nicht möglich ist, — so würde dadurch die Ungleichheit keineswegs
gehoben sein. Denn der Arme bezahlt die Geldbuße von seinem nothdürf¬
tigen, der Reiche von seinem Ueberflusse. Es ist unrichtig, daß die Geldbuße
schlechthin die gelindeste Strafe sei. Der Arme wandert lieber in das Ge¬
fängniß, als daß er darbt. Da nun auch, wenn er die Mittel zur Erlegung
der Geldstrafe nicht besitzt, die Freiheitsstrafe an deren Stelle tritt, so
wird für ihn die letztere die allgemeine, während doch die Freiheit für ihn
denselben Werth hat, wie für den Vermögenden.

Eine andere Strafart von zweifelhafter Berechtigung ist der Verlust der
bürgerlichen Ehrenrechte. Sie tritt im EntWurfe nicht als selbständige
Strafe, sondern als sogenannte Nebenstrafe auf. Die Verhängung derselben
soll in jedem einzelnen Falle dem Ermessen des Richters überlassen bleiben.
Sie kann verhängt werden neben der Todesstrafe (nach der Bundespräsidial-
vorlage), der Zuchthausstrafe und einer auf mindestens drei Monate er¬
kannten Gefängnißstrafe, neben der letztgedachten jedoch nur in den vom
Gesetze vorgesehenen Fällen, oder wenn die Gefängnißstrafe in Folge der An-


Greuzboten it. 1870. 29
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[0231] Die bürgerlichen Ehrenrechte vor dem Strafrichter. Der Fortschritt deutscher Strafgesetzgebung scheint sich nach dem Ent- würfe des Bundes-Strafgesetzbuchs, wie er aus der zweiten Lesung des Reichs¬ tages hervorgegangen ist, hauptsächlich in drei Richtungen vollziehen zu sollen: durch die Abschaffung der Todesstrafe, durch gesetzliche Regelung der Voll- streckung von Freiheitsstrafen, — worauf sich die vom Reichstage zum § 19 der Vorlage angenommene Resolution bezieht — und durch mildere Bestrafung einzelner Verbrechen und Vergehen. Es gibt aber noch andere Bestimmun¬ gen der deutschen Strafgesetze, welche der Reform bedürfen, die ihnen, wie es scheint, dieses Mal noch nicht zu Theil werden soll. Während der Streit über die Todesstrafe die Kämpfenden erregt, schlüpfen gewisse geringere Straf¬ arten weniger beachtet aus dem alten Gesetze in das neue hinüber. Zwar über die Geldstrafe ist im Reichstage mit Einsicht gesprochen worden. Sie mag das geeignete Mittel zur Ahndung einer im Verbrechen hervorge¬ tretenen gewinnsüchtigen Absicht sein. Aber sie findet in unseren Strafge¬ setzen eine weit allgemeinere Anwendung, namentlich bei den Übertretungen, obwohl es gewiß ist, daß sie den Thäter, je nach seinem Vermögen, mit höchst ungleicher Wirkung trifft. Selbst wenn es möglich wäre, die Strafe in jedem Falle nach dem Verhältniß des Vermögens abzumessen, — was natürlich nicht möglich ist, — so würde dadurch die Ungleichheit keineswegs gehoben sein. Denn der Arme bezahlt die Geldbuße von seinem nothdürf¬ tigen, der Reiche von seinem Ueberflusse. Es ist unrichtig, daß die Geldbuße schlechthin die gelindeste Strafe sei. Der Arme wandert lieber in das Ge¬ fängniß, als daß er darbt. Da nun auch, wenn er die Mittel zur Erlegung der Geldstrafe nicht besitzt, die Freiheitsstrafe an deren Stelle tritt, so wird für ihn die letztere die allgemeine, während doch die Freiheit für ihn denselben Werth hat, wie für den Vermögenden. Eine andere Strafart von zweifelhafter Berechtigung ist der Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte. Sie tritt im EntWurfe nicht als selbständige Strafe, sondern als sogenannte Nebenstrafe auf. Die Verhängung derselben soll in jedem einzelnen Falle dem Ermessen des Richters überlassen bleiben. Sie kann verhängt werden neben der Todesstrafe (nach der Bundespräsidial- vorlage), der Zuchthausstrafe und einer auf mindestens drei Monate er¬ kannten Gefängnißstrafe, neben der letztgedachten jedoch nur in den vom Gesetze vorgesehenen Fällen, oder wenn die Gefängnißstrafe in Folge der An- Greuzboten it. 1870. 29

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/231>, abgerufen am 18.12.2024.