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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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Wiener PrcMMnde.
Korrespondenz aus Oestreich.

Sie wünschen von mir über die Preßzustände unserer Donauhauptstadt
zu hören? Wenn ich Ihrem Wunsche nachkomme, so geschieht es auf Ihre
Gefahr, d. h. auf die Gefahr hin, daß der Versuch gemacht wird, auch die
Grenzboten als geheime Alliirte der Clericalen und aristokratischen Freiheits¬
feinde zu verdächtigen; wer hier nicht in allen Stücken die Tagesparole nach¬
spricht und den Tagesgötzen opfert, nicht die Ueberzeugung ausspricht, die
Sache unserer liberalen Wortführer sei zugleich die des Liberalismus quanä
w6at, wird nämlich ohne Weiteres unter die Kategorie der Zurückgebliebe¬
nen gesetzt und damit abgethan.

Mit äußerst wenigen Ausnahmen sind die Wiener Zeitungen im schlimm¬
sten Sinne des Worts industrielle Unternehmungen: ein Zustand, der frei¬
lich nur in einem Lande möglich ist. in welchem die jahrhundertlange Unter¬
drückung alles selbständigen Lebens und Bewegens und das fortwährende
Experimentiren seit zwanzig Jahren, es noch bis heute nicht zur Parteibildung
haben kommen lassen. Diese hauptstädtische Presse beherrscht thatsächlich das
ganze Land, ein Land, welches bei der Mannichfaltigkeit seiner Bestandtheile
weniger als irgend ein anderes solche Centralisation und Bevormundung er¬
tragen kann. Täglich müssen wir sehen, wie provinzielle Verhältnisse und
Bedürfnisse mit völliger Unkenntnis? besprochen oder mit Hohn abgefertigt,
nationale, politische und religiöse Ueberzeugungen verletzt werden. Täglich
sehen wir die Corruption weiter um sich greifen. Täglich empfinden wir
schmerzlich, wie die gute Sache der Freiheit compromittirt. die Verständigung
der Nationalitäten erschwert wird.

Wir, die wir vom Kampf gegen die ultramontanen und feudalen
Mächte noch warm sind, werden ab und zu sogar in Versuchung geführt,
Partei zu ergreifen für die Clericalen gegenüber der maßlosen Frechheit ge¬
wisser Preßspeculanten, welche über Verletzung der Gleichberechiigung schreien,
wenn der Steckbrief hinter einem stammverwandten Gauner dessen "Con-
fession" erwähnt. Wir leiden unter dem Terrorismus und sind doch außer
Stande, ihn abzuschütteln. In Wien selbst hat es noch nicht gelingen wollen,
ein unabhängiges Organ emporzubringen gegen die mit allen Mitteln der
modernen journalistischen Industrie arbeitenden Geschäfrsblätter. Die von
allen Seiten zuströmenden Subventionen gewähren diesen die Mittel, durch
die Fülle der Nachrichten und des Lesestoffes überhaupt, jedes blos auf Abon¬
nenten und Inserenten angewiesene Journal vollkommen in Schatten zu


Grenzboten II. 18"9. 19
Wiener PrcMMnde.
Korrespondenz aus Oestreich.

Sie wünschen von mir über die Preßzustände unserer Donauhauptstadt
zu hören? Wenn ich Ihrem Wunsche nachkomme, so geschieht es auf Ihre
Gefahr, d. h. auf die Gefahr hin, daß der Versuch gemacht wird, auch die
Grenzboten als geheime Alliirte der Clericalen und aristokratischen Freiheits¬
feinde zu verdächtigen; wer hier nicht in allen Stücken die Tagesparole nach¬
spricht und den Tagesgötzen opfert, nicht die Ueberzeugung ausspricht, die
Sache unserer liberalen Wortführer sei zugleich die des Liberalismus quanä
w6at, wird nämlich ohne Weiteres unter die Kategorie der Zurückgebliebe¬
nen gesetzt und damit abgethan.

Mit äußerst wenigen Ausnahmen sind die Wiener Zeitungen im schlimm¬
sten Sinne des Worts industrielle Unternehmungen: ein Zustand, der frei¬
lich nur in einem Lande möglich ist. in welchem die jahrhundertlange Unter¬
drückung alles selbständigen Lebens und Bewegens und das fortwährende
Experimentiren seit zwanzig Jahren, es noch bis heute nicht zur Parteibildung
haben kommen lassen. Diese hauptstädtische Presse beherrscht thatsächlich das
ganze Land, ein Land, welches bei der Mannichfaltigkeit seiner Bestandtheile
weniger als irgend ein anderes solche Centralisation und Bevormundung er¬
tragen kann. Täglich müssen wir sehen, wie provinzielle Verhältnisse und
Bedürfnisse mit völliger Unkenntnis? besprochen oder mit Hohn abgefertigt,
nationale, politische und religiöse Ueberzeugungen verletzt werden. Täglich
sehen wir die Corruption weiter um sich greifen. Täglich empfinden wir
schmerzlich, wie die gute Sache der Freiheit compromittirt. die Verständigung
der Nationalitäten erschwert wird.

Wir, die wir vom Kampf gegen die ultramontanen und feudalen
Mächte noch warm sind, werden ab und zu sogar in Versuchung geführt,
Partei zu ergreifen für die Clericalen gegenüber der maßlosen Frechheit ge¬
wisser Preßspeculanten, welche über Verletzung der Gleichberechiigung schreien,
wenn der Steckbrief hinter einem stammverwandten Gauner dessen „Con-
fession" erwähnt. Wir leiden unter dem Terrorismus und sind doch außer
Stande, ihn abzuschütteln. In Wien selbst hat es noch nicht gelingen wollen,
ein unabhängiges Organ emporzubringen gegen die mit allen Mitteln der
modernen journalistischen Industrie arbeitenden Geschäfrsblätter. Die von
allen Seiten zuströmenden Subventionen gewähren diesen die Mittel, durch
die Fülle der Nachrichten und des Lesestoffes überhaupt, jedes blos auf Abon¬
nenten und Inserenten angewiesene Journal vollkommen in Schatten zu


Grenzboten II. 18«9. 19
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[0153] Wiener PrcMMnde. Korrespondenz aus Oestreich. Sie wünschen von mir über die Preßzustände unserer Donauhauptstadt zu hören? Wenn ich Ihrem Wunsche nachkomme, so geschieht es auf Ihre Gefahr, d. h. auf die Gefahr hin, daß der Versuch gemacht wird, auch die Grenzboten als geheime Alliirte der Clericalen und aristokratischen Freiheits¬ feinde zu verdächtigen; wer hier nicht in allen Stücken die Tagesparole nach¬ spricht und den Tagesgötzen opfert, nicht die Ueberzeugung ausspricht, die Sache unserer liberalen Wortführer sei zugleich die des Liberalismus quanä w6at, wird nämlich ohne Weiteres unter die Kategorie der Zurückgebliebe¬ nen gesetzt und damit abgethan. Mit äußerst wenigen Ausnahmen sind die Wiener Zeitungen im schlimm¬ sten Sinne des Worts industrielle Unternehmungen: ein Zustand, der frei¬ lich nur in einem Lande möglich ist. in welchem die jahrhundertlange Unter¬ drückung alles selbständigen Lebens und Bewegens und das fortwährende Experimentiren seit zwanzig Jahren, es noch bis heute nicht zur Parteibildung haben kommen lassen. Diese hauptstädtische Presse beherrscht thatsächlich das ganze Land, ein Land, welches bei der Mannichfaltigkeit seiner Bestandtheile weniger als irgend ein anderes solche Centralisation und Bevormundung er¬ tragen kann. Täglich müssen wir sehen, wie provinzielle Verhältnisse und Bedürfnisse mit völliger Unkenntnis? besprochen oder mit Hohn abgefertigt, nationale, politische und religiöse Ueberzeugungen verletzt werden. Täglich sehen wir die Corruption weiter um sich greifen. Täglich empfinden wir schmerzlich, wie die gute Sache der Freiheit compromittirt. die Verständigung der Nationalitäten erschwert wird. Wir, die wir vom Kampf gegen die ultramontanen und feudalen Mächte noch warm sind, werden ab und zu sogar in Versuchung geführt, Partei zu ergreifen für die Clericalen gegenüber der maßlosen Frechheit ge¬ wisser Preßspeculanten, welche über Verletzung der Gleichberechiigung schreien, wenn der Steckbrief hinter einem stammverwandten Gauner dessen „Con- fession" erwähnt. Wir leiden unter dem Terrorismus und sind doch außer Stande, ihn abzuschütteln. In Wien selbst hat es noch nicht gelingen wollen, ein unabhängiges Organ emporzubringen gegen die mit allen Mitteln der modernen journalistischen Industrie arbeitenden Geschäfrsblätter. Die von allen Seiten zuströmenden Subventionen gewähren diesen die Mittel, durch die Fülle der Nachrichten und des Lesestoffes überhaupt, jedes blos auf Abon¬ nenten und Inserenten angewiesene Journal vollkommen in Schatten zu Grenzboten II. 18«9. 19

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/153>, abgerufen am 24.07.2024.