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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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Verlorne Posten deutscher Colonisation.
2. Samogitien.
(Vergl, Ur. 8 der Grenzboten.)

Was das sogenannte polnische Livland für die russischen Ostseeprovinzen
bedeutet, das ist das ehemalige Herzogthum Samogitien für Ostpreußen: ein
verloren gegangenes Stück deutscher Colonisationsarbeit, ein Land, das nach
Vernichtung der Cultureinflüsse, von denen es früher beherrscht worden, einem
halb barbarischen Zustande verfallen ist und jedes bestimmten nationalen
Charakters entbehrt -- ein abschreckendes Beispiel dafür, was aus den heute
germanisirten östlichen Provinzen Preußens geworden wäre, wenn diese sich
ihr Deutschthum nicht erhalten hätten.

Seiner Bevölkerung und seiner Cultureigenthümlichkeiten nach ist Sa¬
mogitien von polnisch Livland kaum zu unterscheiden. Hier wie dort finden
wir polnische Edelleute und katholische Priester, welche seit Jahrhunderten
über ein Volk, d,as nur eine Classe der Gesellschaft, den Bauernstand reprä-
sentirt, herrschen und diese Herrschaft gegen den Andrang russischer Beamten
und griechisch-orthodoxer Popen muthig zu vertheidigen suchen, -- hier wie
dort fehlen große Städte und feste Bildungsemporien, liegen alle Zweige
des Geschäfts und Verkehrslebens in den Händen von Juden und erinnern
nur noch deutsche Namen daran, daß wir auf einem Boden stehen, den
unsere Vorfahren mit ihrem Blut erkauft hatten. Spuren deutscher Vergan¬
genheit sind in Samogitien sogar noch schwerer zu entdecken, als in polnisch
Livland, denn nicht zweihundertundfünfzig, sondern nahe zu vierhundertund-
süufzig Jahre ist es her, daß die weiße Fahne mit dem schwarzen Kreuz
von den Thürmen der alten Schmudenstadt Rossieny verschwunden ist.

Und doch waren die Aussichten, welche das Herzogthum Samogitien
seiner Zeit darauf hatte, der Segnungen deutscher Cultur theilhaft zu werden,
ungleich günstiger gewesen als selbst für die Länder, welche heute die
deutsch-russischen Ostseeprovinzen heißen -- von polnisch Livland gar nicht
zu reden.

Schon ein Blick auf die Karte zeigt, daß die Theile der Gouvernements
Kowno (zum Wilnaer General-Gouvernement gehörig) und Augustowo (zum
Königreich Polen gehörig), welche das Herzogthum Samogitien (Samaiten,
SchMudien, Zmud) bildeten, den Hauptcentren der civilisatorischen Macht
des deutschen Ordens ungleich näher lagen als die Küsten des rigaschen
Meerbusens oder die Ebenen bei Dünaburg und Kreslav. Die Wohnsitze
der am weitesten nach Westen vorgedrungenen Samogitier waren nur wenige


Verlorne Posten deutscher Colonisation.
2. Samogitien.
(Vergl, Ur. 8 der Grenzboten.)

Was das sogenannte polnische Livland für die russischen Ostseeprovinzen
bedeutet, das ist das ehemalige Herzogthum Samogitien für Ostpreußen: ein
verloren gegangenes Stück deutscher Colonisationsarbeit, ein Land, das nach
Vernichtung der Cultureinflüsse, von denen es früher beherrscht worden, einem
halb barbarischen Zustande verfallen ist und jedes bestimmten nationalen
Charakters entbehrt — ein abschreckendes Beispiel dafür, was aus den heute
germanisirten östlichen Provinzen Preußens geworden wäre, wenn diese sich
ihr Deutschthum nicht erhalten hätten.

Seiner Bevölkerung und seiner Cultureigenthümlichkeiten nach ist Sa¬
mogitien von polnisch Livland kaum zu unterscheiden. Hier wie dort finden
wir polnische Edelleute und katholische Priester, welche seit Jahrhunderten
über ein Volk, d,as nur eine Classe der Gesellschaft, den Bauernstand reprä-
sentirt, herrschen und diese Herrschaft gegen den Andrang russischer Beamten
und griechisch-orthodoxer Popen muthig zu vertheidigen suchen, — hier wie
dort fehlen große Städte und feste Bildungsemporien, liegen alle Zweige
des Geschäfts und Verkehrslebens in den Händen von Juden und erinnern
nur noch deutsche Namen daran, daß wir auf einem Boden stehen, den
unsere Vorfahren mit ihrem Blut erkauft hatten. Spuren deutscher Vergan¬
genheit sind in Samogitien sogar noch schwerer zu entdecken, als in polnisch
Livland, denn nicht zweihundertundfünfzig, sondern nahe zu vierhundertund-
süufzig Jahre ist es her, daß die weiße Fahne mit dem schwarzen Kreuz
von den Thürmen der alten Schmudenstadt Rossieny verschwunden ist.

Und doch waren die Aussichten, welche das Herzogthum Samogitien
seiner Zeit darauf hatte, der Segnungen deutscher Cultur theilhaft zu werden,
ungleich günstiger gewesen als selbst für die Länder, welche heute die
deutsch-russischen Ostseeprovinzen heißen — von polnisch Livland gar nicht
zu reden.

Schon ein Blick auf die Karte zeigt, daß die Theile der Gouvernements
Kowno (zum Wilnaer General-Gouvernement gehörig) und Augustowo (zum
Königreich Polen gehörig), welche das Herzogthum Samogitien (Samaiten,
SchMudien, Zmud) bildeten, den Hauptcentren der civilisatorischen Macht
des deutschen Ordens ungleich näher lagen als die Küsten des rigaschen
Meerbusens oder die Ebenen bei Dünaburg und Kreslav. Die Wohnsitze
der am weitesten nach Westen vorgedrungenen Samogitier waren nur wenige


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[0449] Verlorne Posten deutscher Colonisation. 2. Samogitien. (Vergl, Ur. 8 der Grenzboten.) Was das sogenannte polnische Livland für die russischen Ostseeprovinzen bedeutet, das ist das ehemalige Herzogthum Samogitien für Ostpreußen: ein verloren gegangenes Stück deutscher Colonisationsarbeit, ein Land, das nach Vernichtung der Cultureinflüsse, von denen es früher beherrscht worden, einem halb barbarischen Zustande verfallen ist und jedes bestimmten nationalen Charakters entbehrt — ein abschreckendes Beispiel dafür, was aus den heute germanisirten östlichen Provinzen Preußens geworden wäre, wenn diese sich ihr Deutschthum nicht erhalten hätten. Seiner Bevölkerung und seiner Cultureigenthümlichkeiten nach ist Sa¬ mogitien von polnisch Livland kaum zu unterscheiden. Hier wie dort finden wir polnische Edelleute und katholische Priester, welche seit Jahrhunderten über ein Volk, d,as nur eine Classe der Gesellschaft, den Bauernstand reprä- sentirt, herrschen und diese Herrschaft gegen den Andrang russischer Beamten und griechisch-orthodoxer Popen muthig zu vertheidigen suchen, — hier wie dort fehlen große Städte und feste Bildungsemporien, liegen alle Zweige des Geschäfts und Verkehrslebens in den Händen von Juden und erinnern nur noch deutsche Namen daran, daß wir auf einem Boden stehen, den unsere Vorfahren mit ihrem Blut erkauft hatten. Spuren deutscher Vergan¬ genheit sind in Samogitien sogar noch schwerer zu entdecken, als in polnisch Livland, denn nicht zweihundertundfünfzig, sondern nahe zu vierhundertund- süufzig Jahre ist es her, daß die weiße Fahne mit dem schwarzen Kreuz von den Thürmen der alten Schmudenstadt Rossieny verschwunden ist. Und doch waren die Aussichten, welche das Herzogthum Samogitien seiner Zeit darauf hatte, der Segnungen deutscher Cultur theilhaft zu werden, ungleich günstiger gewesen als selbst für die Länder, welche heute die deutsch-russischen Ostseeprovinzen heißen — von polnisch Livland gar nicht zu reden. Schon ein Blick auf die Karte zeigt, daß die Theile der Gouvernements Kowno (zum Wilnaer General-Gouvernement gehörig) und Augustowo (zum Königreich Polen gehörig), welche das Herzogthum Samogitien (Samaiten, SchMudien, Zmud) bildeten, den Hauptcentren der civilisatorischen Macht des deutschen Ordens ungleich näher lagen als die Küsten des rigaschen Meerbusens oder die Ebenen bei Dünaburg und Kreslav. Die Wohnsitze der am weitesten nach Westen vorgedrungenen Samogitier waren nur wenige

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/449>, abgerufen am 15.01.2025.