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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band.

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Die parlamentarische Geschäftsordnung.

Wie von zweckmäßigen Formen überhaupt die Verwerthung des Inhalts
abhängt, so wird die politische und geistige Kraft einer berathenden Verscimm-
lung fortwährend durch die richtige äußere Ordnung bedingt, in welcher sie sich
bewegt. Leider sind unsre Geschäftsmdnungen wie unser ganzer Constitutiona-
lismus wesentlich nach dem rationellen französischen Muster zugeschnitten und
man hat wenig auf die vielhundertjährige parlamentarische Erfahrung Eng¬
lands Rücksicht genommen. Einige der größten Unzuträglichkeiten sind, da
glücklicherweise § 78 der Verfassung jedem Hause gestattet, seinen Geschäftsgang
und seine Disciplin selbst zu regeln, durch die Revision von 1862 beseitigt, in¬
deß bleibt noch Raum zu vielen Verbesserungen.

Wir beginnen mit der Frage der Leitung der Versammlung. Man hat
in deutschen Kammern die französische Sitte eines Alterspräsidenten angenommen,
unter dessen Vorsitz die sogenannte Constituirung des Hauses und die Wahl
des Präsidenten erfolgt. Dies Verfahren stammt aus der Zeit des cmtikisirenden
Republikanismus, wo in dem do^on ä'äM wie im Rath der Alten die Weis¬
heit der Greise geehrt weiden sollte, es scheint aber dem sachlichen Zweck sehr
mangelhaft zu entsprechen. Man vergegenwärtige sich den Augenblick, wo eine
große Versammlung zusammentritt, die Stimmung wird, namentlich nach neuen
Wahlen, eine bewegte sein. Zahlreiche Abgeordnete werden sich finden, welche
noch gar nicht oder doch in der letzten Legislaturperiode nicht, dem Hause an¬
gehört haben, meistens kommen sie aus der Stille des Provinziallebens in das
bewegte Treiben der Hauptstadt, das Gefühl der vorliegenden Aufgaben, die
Parteigruppirungcn, vielleicht die Eindrücke einer bewegten Zeit -- alles das
wird aufregend wirken und es bedarf gewiß eines klaren Blickes, einer festen
'Hand, eine solche Versammlung zu leiten. Wen aber wählt man dazu? Das
älteste Mitglied derselben, welches gewiß schon meistens durch köipcrliche Schwach¬
heit diesem Amte niet't gewachsen ist, und um gleichsam eine Verkehrtheit durch
die andre zu verbessern, giebt man ihm zur Seite als Schriftführer die Vier


Grenzboten II. 1867. 41
Die parlamentarische Geschäftsordnung.

Wie von zweckmäßigen Formen überhaupt die Verwerthung des Inhalts
abhängt, so wird die politische und geistige Kraft einer berathenden Verscimm-
lung fortwährend durch die richtige äußere Ordnung bedingt, in welcher sie sich
bewegt. Leider sind unsre Geschäftsmdnungen wie unser ganzer Constitutiona-
lismus wesentlich nach dem rationellen französischen Muster zugeschnitten und
man hat wenig auf die vielhundertjährige parlamentarische Erfahrung Eng¬
lands Rücksicht genommen. Einige der größten Unzuträglichkeiten sind, da
glücklicherweise § 78 der Verfassung jedem Hause gestattet, seinen Geschäftsgang
und seine Disciplin selbst zu regeln, durch die Revision von 1862 beseitigt, in¬
deß bleibt noch Raum zu vielen Verbesserungen.

Wir beginnen mit der Frage der Leitung der Versammlung. Man hat
in deutschen Kammern die französische Sitte eines Alterspräsidenten angenommen,
unter dessen Vorsitz die sogenannte Constituirung des Hauses und die Wahl
des Präsidenten erfolgt. Dies Verfahren stammt aus der Zeit des cmtikisirenden
Republikanismus, wo in dem do^on ä'äM wie im Rath der Alten die Weis¬
heit der Greise geehrt weiden sollte, es scheint aber dem sachlichen Zweck sehr
mangelhaft zu entsprechen. Man vergegenwärtige sich den Augenblick, wo eine
große Versammlung zusammentritt, die Stimmung wird, namentlich nach neuen
Wahlen, eine bewegte sein. Zahlreiche Abgeordnete werden sich finden, welche
noch gar nicht oder doch in der letzten Legislaturperiode nicht, dem Hause an¬
gehört haben, meistens kommen sie aus der Stille des Provinziallebens in das
bewegte Treiben der Hauptstadt, das Gefühl der vorliegenden Aufgaben, die
Parteigruppirungcn, vielleicht die Eindrücke einer bewegten Zeit — alles das
wird aufregend wirken und es bedarf gewiß eines klaren Blickes, einer festen
'Hand, eine solche Versammlung zu leiten. Wen aber wählt man dazu? Das
älteste Mitglied derselben, welches gewiß schon meistens durch köipcrliche Schwach¬
heit diesem Amte niet't gewachsen ist, und um gleichsam eine Verkehrtheit durch
die andre zu verbessern, giebt man ihm zur Seite als Schriftführer die Vier


Grenzboten II. 1867. 41
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[0325] Die parlamentarische Geschäftsordnung. Wie von zweckmäßigen Formen überhaupt die Verwerthung des Inhalts abhängt, so wird die politische und geistige Kraft einer berathenden Verscimm- lung fortwährend durch die richtige äußere Ordnung bedingt, in welcher sie sich bewegt. Leider sind unsre Geschäftsmdnungen wie unser ganzer Constitutiona- lismus wesentlich nach dem rationellen französischen Muster zugeschnitten und man hat wenig auf die vielhundertjährige parlamentarische Erfahrung Eng¬ lands Rücksicht genommen. Einige der größten Unzuträglichkeiten sind, da glücklicherweise § 78 der Verfassung jedem Hause gestattet, seinen Geschäftsgang und seine Disciplin selbst zu regeln, durch die Revision von 1862 beseitigt, in¬ deß bleibt noch Raum zu vielen Verbesserungen. Wir beginnen mit der Frage der Leitung der Versammlung. Man hat in deutschen Kammern die französische Sitte eines Alterspräsidenten angenommen, unter dessen Vorsitz die sogenannte Constituirung des Hauses und die Wahl des Präsidenten erfolgt. Dies Verfahren stammt aus der Zeit des cmtikisirenden Republikanismus, wo in dem do^on ä'äM wie im Rath der Alten die Weis¬ heit der Greise geehrt weiden sollte, es scheint aber dem sachlichen Zweck sehr mangelhaft zu entsprechen. Man vergegenwärtige sich den Augenblick, wo eine große Versammlung zusammentritt, die Stimmung wird, namentlich nach neuen Wahlen, eine bewegte sein. Zahlreiche Abgeordnete werden sich finden, welche noch gar nicht oder doch in der letzten Legislaturperiode nicht, dem Hause an¬ gehört haben, meistens kommen sie aus der Stille des Provinziallebens in das bewegte Treiben der Hauptstadt, das Gefühl der vorliegenden Aufgaben, die Parteigruppirungcn, vielleicht die Eindrücke einer bewegten Zeit — alles das wird aufregend wirken und es bedarf gewiß eines klaren Blickes, einer festen 'Hand, eine solche Versammlung zu leiten. Wen aber wählt man dazu? Das älteste Mitglied derselben, welches gewiß schon meistens durch köipcrliche Schwach¬ heit diesem Amte niet't gewachsen ist, und um gleichsam eine Verkehrtheit durch die andre zu verbessern, giebt man ihm zur Seite als Schriftführer die Vier Grenzboten II. 1867. 41

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/325>, abgerufen am 29.06.2024.