Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

anderen Gesehen bewegt, als die Kunstwelt, in welcher unsere großen Dichter
lebten, die berechtigte Abwendung von der Wirklichkeit, welche sie für den
Künstler verlangten, eine Forderung war, welche nimmermehr an die Massen-
gestellt werden konnte, ohne diese ihrem wahren Beruf abwendig zu machen
lag der Opposition, welche die xaties minorum und an ihrer Spitze Merkel
gegen de" einseitigen Cultus des Schönen erhoben, ein berechtigtes Moment
zu Grunde, dem wir, ob es i" der Erscheinung gleich vielfach verzerrt war,
gerecht werden müssen. -- Ein Mann, der schon im Jahre 1805 die Noth¬
wendigkeit einer Regeneration des deutschen Volks erkannte und öffentlich ver¬
kündete, der zur Nationalcrhcbung gegen die Franzosen aufrief, als sich noch
alles zitternd vor dem großen Imperator beugte, der die rheinbündlerische Klein¬
staaterei in einer Zeit anzugreifen wagte, in welcher der beschränkte Unter-
thanenverstand die besten deutschen Köpfe unter das Joch der kleinen Tyrannen
bog -- ein Mann dieses Schlages sollte für die Zeugen der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts mehr sein, als blos der Schriftsteller "der gegen Goethe
geschrieben."




Ein Heiliger als rettender Dämon.

An wenig Dingen haftet der Sinn der Völker mit solcher Zähigkeit, wie
an gewissen Arten des Aberglaubens. Der dringende Wunsch, aus einer großen
Noth oder gar Lebensgefahr durch irgendein verborgenes Mittel plötzlich befreit
zu werden, erregt die kindliche Phantasie so, daß sie sich bald einbildet, es gäbe
ein solches Mittel; natürlich muß dasselbe aber schwierig zu erlangen und mit
dem Schleier des Geheimnisses bedeckt sein. Der Reiz des Geheimnißvollen
vermehrt auf der einen Seite die Gläubigkeit, während auf der andern Seite
bei den zahllosen Fällen des Mißerfolges unter diesen Umständen für den
Glauben immer eine Hinterthür offen bleibt. So kommt es, daß sich auch bei
uns zum Theil der roheste Aberglaube, wie der an die Wirksamkeit gewisser
Vcsprechungsfvrmcln, aus uralter Zeit bis auf unsre Tage gerettet hat.*) Mit



*)A, Kühn, der für die Vergleichung der indogermanischen Mythen und mythischen
Vorstellungkn so viel geleistet hat, verdanken wir u. a, auch eine Zusammenstellung von sol¬
chen Besprcchungsformeln, die von den Veden an bis zu der Gegenwart im Wesentlichen nicht
viel verändert sind.

anderen Gesehen bewegt, als die Kunstwelt, in welcher unsere großen Dichter
lebten, die berechtigte Abwendung von der Wirklichkeit, welche sie für den
Künstler verlangten, eine Forderung war, welche nimmermehr an die Massen-
gestellt werden konnte, ohne diese ihrem wahren Beruf abwendig zu machen
lag der Opposition, welche die xaties minorum und an ihrer Spitze Merkel
gegen de» einseitigen Cultus des Schönen erhoben, ein berechtigtes Moment
zu Grunde, dem wir, ob es i» der Erscheinung gleich vielfach verzerrt war,
gerecht werden müssen. — Ein Mann, der schon im Jahre 1805 die Noth¬
wendigkeit einer Regeneration des deutschen Volks erkannte und öffentlich ver¬
kündete, der zur Nationalcrhcbung gegen die Franzosen aufrief, als sich noch
alles zitternd vor dem großen Imperator beugte, der die rheinbündlerische Klein¬
staaterei in einer Zeit anzugreifen wagte, in welcher der beschränkte Unter-
thanenverstand die besten deutschen Köpfe unter das Joch der kleinen Tyrannen
bog — ein Mann dieses Schlages sollte für die Zeugen der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts mehr sein, als blos der Schriftsteller „der gegen Goethe
geschrieben."




Ein Heiliger als rettender Dämon.

An wenig Dingen haftet der Sinn der Völker mit solcher Zähigkeit, wie
an gewissen Arten des Aberglaubens. Der dringende Wunsch, aus einer großen
Noth oder gar Lebensgefahr durch irgendein verborgenes Mittel plötzlich befreit
zu werden, erregt die kindliche Phantasie so, daß sie sich bald einbildet, es gäbe
ein solches Mittel; natürlich muß dasselbe aber schwierig zu erlangen und mit
dem Schleier des Geheimnisses bedeckt sein. Der Reiz des Geheimnißvollen
vermehrt auf der einen Seite die Gläubigkeit, während auf der andern Seite
bei den zahllosen Fällen des Mißerfolges unter diesen Umständen für den
Glauben immer eine Hinterthür offen bleibt. So kommt es, daß sich auch bei
uns zum Theil der roheste Aberglaube, wie der an die Wirksamkeit gewisser
Vcsprechungsfvrmcln, aus uralter Zeit bis auf unsre Tage gerettet hat.*) Mit



*)A, Kühn, der für die Vergleichung der indogermanischen Mythen und mythischen
Vorstellungkn so viel geleistet hat, verdanken wir u. a, auch eine Zusammenstellung von sol¬
chen Besprcchungsformeln, die von den Veden an bis zu der Gegenwart im Wesentlichen nicht
viel verändert sind.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0281" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/190975"/>
          <p xml:id="ID_889" prev="#ID_888"> anderen Gesehen bewegt, als die Kunstwelt, in welcher unsere großen Dichter<lb/>
lebten, die berechtigte Abwendung von der Wirklichkeit, welche sie für den<lb/>
Künstler verlangten, eine Forderung war, welche nimmermehr an die Massen-<lb/>
gestellt werden konnte, ohne diese ihrem wahren Beruf abwendig zu machen<lb/>
lag der Opposition, welche die xaties minorum und an ihrer Spitze Merkel<lb/>
gegen de» einseitigen Cultus des Schönen erhoben, ein berechtigtes Moment<lb/>
zu Grunde, dem wir, ob es i» der Erscheinung gleich vielfach verzerrt war,<lb/>
gerecht werden müssen. &#x2014; Ein Mann, der schon im Jahre 1805 die Noth¬<lb/>
wendigkeit einer Regeneration des deutschen Volks erkannte und öffentlich ver¬<lb/>
kündete, der zur Nationalcrhcbung gegen die Franzosen aufrief, als sich noch<lb/>
alles zitternd vor dem großen Imperator beugte, der die rheinbündlerische Klein¬<lb/>
staaterei in einer Zeit anzugreifen wagte, in welcher der beschränkte Unter-<lb/>
thanenverstand die besten deutschen Köpfe unter das Joch der kleinen Tyrannen<lb/>
bog &#x2014; ein Mann dieses Schlages sollte für die Zeugen der zweiten Hälfte<lb/>
des 19. Jahrhunderts mehr sein, als blos der Schriftsteller &#x201E;der gegen Goethe<lb/>
geschrieben."</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Ein Heiliger als rettender Dämon.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_890" next="#ID_891"> An wenig Dingen haftet der Sinn der Völker mit solcher Zähigkeit, wie<lb/>
an gewissen Arten des Aberglaubens. Der dringende Wunsch, aus einer großen<lb/>
Noth oder gar Lebensgefahr durch irgendein verborgenes Mittel plötzlich befreit<lb/>
zu werden, erregt die kindliche Phantasie so, daß sie sich bald einbildet, es gäbe<lb/>
ein solches Mittel; natürlich muß dasselbe aber schwierig zu erlangen und mit<lb/>
dem Schleier des Geheimnisses bedeckt sein. Der Reiz des Geheimnißvollen<lb/>
vermehrt auf der einen Seite die Gläubigkeit, während auf der andern Seite<lb/>
bei den zahllosen Fällen des Mißerfolges unter diesen Umständen für den<lb/>
Glauben immer eine Hinterthür offen bleibt. So kommt es, daß sich auch bei<lb/>
uns zum Theil der roheste Aberglaube, wie der an die Wirksamkeit gewisser<lb/>
Vcsprechungsfvrmcln, aus uralter Zeit bis auf unsre Tage gerettet hat.*) Mit</p><lb/>
          <note xml:id="FID_26" place="foot"> *)A, Kühn, der für die Vergleichung der indogermanischen Mythen und mythischen<lb/>
Vorstellungkn so viel geleistet hat, verdanken wir u. a, auch eine Zusammenstellung von sol¬<lb/>
chen Besprcchungsformeln, die von den Veden an bis zu der Gegenwart im Wesentlichen nicht<lb/>
viel verändert sind.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0281] anderen Gesehen bewegt, als die Kunstwelt, in welcher unsere großen Dichter lebten, die berechtigte Abwendung von der Wirklichkeit, welche sie für den Künstler verlangten, eine Forderung war, welche nimmermehr an die Massen- gestellt werden konnte, ohne diese ihrem wahren Beruf abwendig zu machen lag der Opposition, welche die xaties minorum und an ihrer Spitze Merkel gegen de» einseitigen Cultus des Schönen erhoben, ein berechtigtes Moment zu Grunde, dem wir, ob es i» der Erscheinung gleich vielfach verzerrt war, gerecht werden müssen. — Ein Mann, der schon im Jahre 1805 die Noth¬ wendigkeit einer Regeneration des deutschen Volks erkannte und öffentlich ver¬ kündete, der zur Nationalcrhcbung gegen die Franzosen aufrief, als sich noch alles zitternd vor dem großen Imperator beugte, der die rheinbündlerische Klein¬ staaterei in einer Zeit anzugreifen wagte, in welcher der beschränkte Unter- thanenverstand die besten deutschen Köpfe unter das Joch der kleinen Tyrannen bog — ein Mann dieses Schlages sollte für die Zeugen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehr sein, als blos der Schriftsteller „der gegen Goethe geschrieben." Ein Heiliger als rettender Dämon. An wenig Dingen haftet der Sinn der Völker mit solcher Zähigkeit, wie an gewissen Arten des Aberglaubens. Der dringende Wunsch, aus einer großen Noth oder gar Lebensgefahr durch irgendein verborgenes Mittel plötzlich befreit zu werden, erregt die kindliche Phantasie so, daß sie sich bald einbildet, es gäbe ein solches Mittel; natürlich muß dasselbe aber schwierig zu erlangen und mit dem Schleier des Geheimnisses bedeckt sein. Der Reiz des Geheimnißvollen vermehrt auf der einen Seite die Gläubigkeit, während auf der andern Seite bei den zahllosen Fällen des Mißerfolges unter diesen Umständen für den Glauben immer eine Hinterthür offen bleibt. So kommt es, daß sich auch bei uns zum Theil der roheste Aberglaube, wie der an die Wirksamkeit gewisser Vcsprechungsfvrmcln, aus uralter Zeit bis auf unsre Tage gerettet hat.*) Mit *)A, Kühn, der für die Vergleichung der indogermanischen Mythen und mythischen Vorstellungkn so viel geleistet hat, verdanken wir u. a, auch eine Zusammenstellung von sol¬ chen Besprcchungsformeln, die von den Veden an bis zu der Gegenwart im Wesentlichen nicht viel verändert sind.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/281
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/281>, abgerufen am 03.07.2024.