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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band.

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Die Abtretung Venetiens an Kaiser Napoleon.

Wenn man dem alten Shylock zugemuthet hätte, seinem grimmigen Haß
gegen Antonio dadurch Genüge zu thun, daß er sich selbst aus seinem Leibe
ein Pfund Fleisch ablöse und dasselbe einem Dritten schenke, er würde solchen
Vorschlag als ein höchst unsinniges Geschäft verworfen haben. Was dem Juden
von Venedig nicht möglich gewesen wäre, hat das erlauchte Haus der Lothringer
mit besonderer Behendigkeit zuwege gebracht. Es hat gethan, was in der Ge¬
schichte bis jetzt, soweit uns Kunde von Kämpfen um Land und Leute über¬
liefert ist, noch nie erhört war: eine große Provinz, um die es vor wenig
Wochen ungeheure Rüstungen machte und Krieg für Sein und Nichtsein begann,
ist von ihm weggeschenkt, "ohne Bedingungen", nicht einer der beiden Mächte,
mit denen es im Kampfe war. sondern einer dritten, neutralen Macht. Die
Gemüthsstimmung, in welcher dies geschah, hat große Aehnlichkeit mit der eines
Knaben, der den Apfel, um den er sich mit zweien rauft, einem dritten giebt,
damit seinem Gegner die Freude verdorben werde und der dritte zu Hilfe komme.

Doch jeder Vergleich wird lahm gegenüber solchem Schritte. Es war
eine klägliche Stunde, als man in der Hofburg durch tödtlich gekränkten
Stolz und im Schreck über eine ungeheure Niederlage sich verleiten ließ, einem
leisen Flüstern, welches von Paris her in das kaiserliche Ohr drang, nachzugeben.
Denn diese Stunde hat vor ganz Europa nicht nur eine würdelose Schwäche
der kaiserlichen Regierung documentirt, noch etwas Schlimmeres. Eine Regie¬
rung, welche in solcher Weise über Millionen Menschen verfügt, welche sie durch
Jahrzehnte festgehalten hat. weil die Zugehörigkeit für das Wohl des Ganzen
unentbehrlich sei, paßt nicht mehr in das moderne Staatsleben Europas. Ihre
Anschauungen von dem Recht der Fürsten gegenüber den Völkern sind aus
abgelebter Zeit, und solche dynastische Auffassung vermag nicht mehr die Ehre
und Selbständigkeit ihrer eigenen Völker zu wahren.

DaS ist ihre Sache, und es ist Sache der Oestreicher, Ungarn und Slaven,
wie sie diese Art von Demüthigung ertragen. Denn es giebt noch manches


Grenzboten III. 1866. 11
Die Abtretung Venetiens an Kaiser Napoleon.

Wenn man dem alten Shylock zugemuthet hätte, seinem grimmigen Haß
gegen Antonio dadurch Genüge zu thun, daß er sich selbst aus seinem Leibe
ein Pfund Fleisch ablöse und dasselbe einem Dritten schenke, er würde solchen
Vorschlag als ein höchst unsinniges Geschäft verworfen haben. Was dem Juden
von Venedig nicht möglich gewesen wäre, hat das erlauchte Haus der Lothringer
mit besonderer Behendigkeit zuwege gebracht. Es hat gethan, was in der Ge¬
schichte bis jetzt, soweit uns Kunde von Kämpfen um Land und Leute über¬
liefert ist, noch nie erhört war: eine große Provinz, um die es vor wenig
Wochen ungeheure Rüstungen machte und Krieg für Sein und Nichtsein begann,
ist von ihm weggeschenkt, „ohne Bedingungen", nicht einer der beiden Mächte,
mit denen es im Kampfe war. sondern einer dritten, neutralen Macht. Die
Gemüthsstimmung, in welcher dies geschah, hat große Aehnlichkeit mit der eines
Knaben, der den Apfel, um den er sich mit zweien rauft, einem dritten giebt,
damit seinem Gegner die Freude verdorben werde und der dritte zu Hilfe komme.

Doch jeder Vergleich wird lahm gegenüber solchem Schritte. Es war
eine klägliche Stunde, als man in der Hofburg durch tödtlich gekränkten
Stolz und im Schreck über eine ungeheure Niederlage sich verleiten ließ, einem
leisen Flüstern, welches von Paris her in das kaiserliche Ohr drang, nachzugeben.
Denn diese Stunde hat vor ganz Europa nicht nur eine würdelose Schwäche
der kaiserlichen Regierung documentirt, noch etwas Schlimmeres. Eine Regie¬
rung, welche in solcher Weise über Millionen Menschen verfügt, welche sie durch
Jahrzehnte festgehalten hat. weil die Zugehörigkeit für das Wohl des Ganzen
unentbehrlich sei, paßt nicht mehr in das moderne Staatsleben Europas. Ihre
Anschauungen von dem Recht der Fürsten gegenüber den Völkern sind aus
abgelebter Zeit, und solche dynastische Auffassung vermag nicht mehr die Ehre
und Selbständigkeit ihrer eigenen Völker zu wahren.

DaS ist ihre Sache, und es ist Sache der Oestreicher, Ungarn und Slaven,
wie sie diese Art von Demüthigung ertragen. Denn es giebt noch manches


Grenzboten III. 1866. 11
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[0095] Die Abtretung Venetiens an Kaiser Napoleon. Wenn man dem alten Shylock zugemuthet hätte, seinem grimmigen Haß gegen Antonio dadurch Genüge zu thun, daß er sich selbst aus seinem Leibe ein Pfund Fleisch ablöse und dasselbe einem Dritten schenke, er würde solchen Vorschlag als ein höchst unsinniges Geschäft verworfen haben. Was dem Juden von Venedig nicht möglich gewesen wäre, hat das erlauchte Haus der Lothringer mit besonderer Behendigkeit zuwege gebracht. Es hat gethan, was in der Ge¬ schichte bis jetzt, soweit uns Kunde von Kämpfen um Land und Leute über¬ liefert ist, noch nie erhört war: eine große Provinz, um die es vor wenig Wochen ungeheure Rüstungen machte und Krieg für Sein und Nichtsein begann, ist von ihm weggeschenkt, „ohne Bedingungen", nicht einer der beiden Mächte, mit denen es im Kampfe war. sondern einer dritten, neutralen Macht. Die Gemüthsstimmung, in welcher dies geschah, hat große Aehnlichkeit mit der eines Knaben, der den Apfel, um den er sich mit zweien rauft, einem dritten giebt, damit seinem Gegner die Freude verdorben werde und der dritte zu Hilfe komme. Doch jeder Vergleich wird lahm gegenüber solchem Schritte. Es war eine klägliche Stunde, als man in der Hofburg durch tödtlich gekränkten Stolz und im Schreck über eine ungeheure Niederlage sich verleiten ließ, einem leisen Flüstern, welches von Paris her in das kaiserliche Ohr drang, nachzugeben. Denn diese Stunde hat vor ganz Europa nicht nur eine würdelose Schwäche der kaiserlichen Regierung documentirt, noch etwas Schlimmeres. Eine Regie¬ rung, welche in solcher Weise über Millionen Menschen verfügt, welche sie durch Jahrzehnte festgehalten hat. weil die Zugehörigkeit für das Wohl des Ganzen unentbehrlich sei, paßt nicht mehr in das moderne Staatsleben Europas. Ihre Anschauungen von dem Recht der Fürsten gegenüber den Völkern sind aus abgelebter Zeit, und solche dynastische Auffassung vermag nicht mehr die Ehre und Selbständigkeit ihrer eigenen Völker zu wahren. DaS ist ihre Sache, und es ist Sache der Oestreicher, Ungarn und Slaven, wie sie diese Art von Demüthigung ertragen. Denn es giebt noch manches Grenzboten III. 1866. 11

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285587/95>, abgerufen am 22.07.2024.