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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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Geschichte der deutschen Literatur von Julian Schmidt.

Geschichte der deutschen Literatur seit Lessings Tod. Von Julian Schmidt. Fünfte,
durchweg umgearbeitete Auflage. Erster Band: Das classische Zeitalter, 1781--17ö7.
Leipzig. Fr. Will). Grunvw. 1866.

Auch im Reiche gedruckter Bücher giebt es Familienverhältnisse, denen die
Leser freundliche Beachtung nicht versagen. Eine solche verwandtschaftliche Ver¬
bindung besteht zwischen dem Buch, welches hier angezeigt wird, und den grünen
Blättern. Wenn die Grenzboten auf den stattlichen Umfang dieses ersten Bandes
blicken und dabei im Gemüth erwägen, daß sie in früheren Jahren ein so ge"
Wichtiges Werk gewissermaßen geboren und auferzogen haben, so wird ihnen
eine gemüthliche Bewegung unvermeidlich. Denn durch mehr als fünfzehn
Jahre war der Verfasser des angezeigten Werkes Mitarbeiter an den Grenzboten
und für den kritischen Theil die Seele des Blattes. Mehres von dem Inhalt
der ersten Ausgabe war zu seiner Zeit in den Grenzboten abgedruckt, vieles
andre war Vertiefung und weit-re Ausführung von Aufsätzen, welche zuerst
hier erschienen.

Es war damals eine zerfahrene Zeit auch in der Poesie. Noch wucherten
die letzten Ausläufer der Romantik, die Nachahmer Bornes verdarben die Prosa
durch dürftige Witzhaschcrei, die Nachahmer Heines die Lyrik durch schlottrige
Ungezogenheit, das ästhetische Urtheil war sehr unsicher, der Geschmack der An¬
spruchsvollen wurde zum großen Theil durch die französische Literatur gerichtet,
was seit alterZeit das Symptom dcutscherErkrankung ist. Aber wie das Jahr 1848
in der politischen Entwickelung unsres Volkes einen Wendepunkt bezeichnet, so
auch in dem künstlerischen. Julian Schmidt war es, der in diesem Blatt, ent¬
schiedener und geistvoller als einer der Zeitgenossen, die Pflicht des Kritikers
gegen das Unhaltbare in unserer Kunst und Poesie übte. Nach allen Seiten
sielen seine Streiche, keine Autorität, kein ängstlich geforderter Ruf kümmerte
ihn, als ein ehrlicher und sittenstrenger Mann legte er den Maßstab des ethischen
und künstlerischen Bedürfnisses einer neuen Zeit an das Vorhandene. Uns vor
allen ziemt daran zu erinnern, wie nothwendig und segensreich diese Thätigkeit


Grenzlwten I. 18K6,
Geschichte der deutschen Literatur von Julian Schmidt.

Geschichte der deutschen Literatur seit Lessings Tod. Von Julian Schmidt. Fünfte,
durchweg umgearbeitete Auflage. Erster Band: Das classische Zeitalter, 1781—17ö7.
Leipzig. Fr. Will). Grunvw. 1866.

Auch im Reiche gedruckter Bücher giebt es Familienverhältnisse, denen die
Leser freundliche Beachtung nicht versagen. Eine solche verwandtschaftliche Ver¬
bindung besteht zwischen dem Buch, welches hier angezeigt wird, und den grünen
Blättern. Wenn die Grenzboten auf den stattlichen Umfang dieses ersten Bandes
blicken und dabei im Gemüth erwägen, daß sie in früheren Jahren ein so ge»
Wichtiges Werk gewissermaßen geboren und auferzogen haben, so wird ihnen
eine gemüthliche Bewegung unvermeidlich. Denn durch mehr als fünfzehn
Jahre war der Verfasser des angezeigten Werkes Mitarbeiter an den Grenzboten
und für den kritischen Theil die Seele des Blattes. Mehres von dem Inhalt
der ersten Ausgabe war zu seiner Zeit in den Grenzboten abgedruckt, vieles
andre war Vertiefung und weit-re Ausführung von Aufsätzen, welche zuerst
hier erschienen.

Es war damals eine zerfahrene Zeit auch in der Poesie. Noch wucherten
die letzten Ausläufer der Romantik, die Nachahmer Bornes verdarben die Prosa
durch dürftige Witzhaschcrei, die Nachahmer Heines die Lyrik durch schlottrige
Ungezogenheit, das ästhetische Urtheil war sehr unsicher, der Geschmack der An¬
spruchsvollen wurde zum großen Theil durch die französische Literatur gerichtet,
was seit alterZeit das Symptom dcutscherErkrankung ist. Aber wie das Jahr 1848
in der politischen Entwickelung unsres Volkes einen Wendepunkt bezeichnet, so
auch in dem künstlerischen. Julian Schmidt war es, der in diesem Blatt, ent¬
schiedener und geistvoller als einer der Zeitgenossen, die Pflicht des Kritikers
gegen das Unhaltbare in unserer Kunst und Poesie übte. Nach allen Seiten
sielen seine Streiche, keine Autorität, kein ängstlich geforderter Ruf kümmerte
ihn, als ein ehrlicher und sittenstrenger Mann legte er den Maßstab des ethischen
und künstlerischen Bedürfnisses einer neuen Zeit an das Vorhandene. Uns vor
allen ziemt daran zu erinnern, wie nothwendig und segensreich diese Thätigkeit


Grenzlwten I. 18K6,
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[0259] Geschichte der deutschen Literatur von Julian Schmidt. Geschichte der deutschen Literatur seit Lessings Tod. Von Julian Schmidt. Fünfte, durchweg umgearbeitete Auflage. Erster Band: Das classische Zeitalter, 1781—17ö7. Leipzig. Fr. Will). Grunvw. 1866. Auch im Reiche gedruckter Bücher giebt es Familienverhältnisse, denen die Leser freundliche Beachtung nicht versagen. Eine solche verwandtschaftliche Ver¬ bindung besteht zwischen dem Buch, welches hier angezeigt wird, und den grünen Blättern. Wenn die Grenzboten auf den stattlichen Umfang dieses ersten Bandes blicken und dabei im Gemüth erwägen, daß sie in früheren Jahren ein so ge» Wichtiges Werk gewissermaßen geboren und auferzogen haben, so wird ihnen eine gemüthliche Bewegung unvermeidlich. Denn durch mehr als fünfzehn Jahre war der Verfasser des angezeigten Werkes Mitarbeiter an den Grenzboten und für den kritischen Theil die Seele des Blattes. Mehres von dem Inhalt der ersten Ausgabe war zu seiner Zeit in den Grenzboten abgedruckt, vieles andre war Vertiefung und weit-re Ausführung von Aufsätzen, welche zuerst hier erschienen. Es war damals eine zerfahrene Zeit auch in der Poesie. Noch wucherten die letzten Ausläufer der Romantik, die Nachahmer Bornes verdarben die Prosa durch dürftige Witzhaschcrei, die Nachahmer Heines die Lyrik durch schlottrige Ungezogenheit, das ästhetische Urtheil war sehr unsicher, der Geschmack der An¬ spruchsvollen wurde zum großen Theil durch die französische Literatur gerichtet, was seit alterZeit das Symptom dcutscherErkrankung ist. Aber wie das Jahr 1848 in der politischen Entwickelung unsres Volkes einen Wendepunkt bezeichnet, so auch in dem künstlerischen. Julian Schmidt war es, der in diesem Blatt, ent¬ schiedener und geistvoller als einer der Zeitgenossen, die Pflicht des Kritikers gegen das Unhaltbare in unserer Kunst und Poesie übte. Nach allen Seiten sielen seine Streiche, keine Autorität, kein ängstlich geforderter Ruf kümmerte ihn, als ein ehrlicher und sittenstrenger Mann legte er den Maßstab des ethischen und künstlerischen Bedürfnisses einer neuen Zeit an das Vorhandene. Uns vor allen ziemt daran zu erinnern, wie nothwendig und segensreich diese Thätigkeit Grenzlwten I. 18K6,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/259>, abgerufen am 22.07.2024.