Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Ferdinand und Therese Huber.
i.

Es ist nicht bloße Neugier, wenn man bei der Geschichte unseres clas¬
sischen Zeitalters den Schriftstellern zweiten und dritten Ranges eine größere Auf- -
merksamkeit zuwendet, als sie ihrem innern Werth nach zu verdienen scheinen.
Um die Leistungen großer Dichter richtig zu würdigen, muß man sich ihr Ver¬
hältniß zur allgemeinen Bildung des Zeitalters versinnlichen; man muß wissen,
was sie von ihren Zeitgenossen empfingen, was sie ihnen gaben und was sie
ihnen waren. Bei den Griechen und Römern, bei den Spaniern und Fran¬
zosen, selbst bei den Italienern und Engländern läßt sich dies Verhältniß
Ziemlich deutlich ermessen; Publicum und Nation siel in gewissem Sinn zu¬
sammen, das ganze Culturleben hatte sich in einen Mittelpunkt gedrängt und
die Dichter hatten keine andere Aufgabe, als für dasselbe den ebenbürtigen'Ausdruck zu finden. In Deutschland wird es dem Geschichtschreiber nicht so
leicht. Zwar ist es auch dem Genius unmöglich, sich dem Boden zu ent¬
ziehen, auf dem er aufgewachsen ist, und ein tieferes Studium wird uns über¬
führen, daß unser classisches Zeitalter trotz seiner hellenistischen und ro¬
mantischen Tendenzen im letzten Grunde nur den deutschen Geist darstellt;
aber von diesem Zusammenhang eine sinnliche Anschauung zu geben, ist schwer,
weil das deutsche Leben so sehr auseinanderfiel. Andererseits ist es nicbt
genau, wenn man die freie Mannigfaltigkeit unserer Dichtung aus ihrer
Decentralisation herleitet. Im Gegentheil bestand in ihrer Blütezeit, die
freilich nur kurz dauerte, ein enger Zusammenhang zwischen allem, was ge¬
schrieben wurde, der in anderem Sinn, als Klopstock es gewollt, die Idee seiner
Gelehrtenrepublik verwirklichte. Nach Klopstocks Idee sollte Kaiser Joseph in
Wien eine Akademie errichten, deren Präsidium natürlich ihm zufiel, und ver¬
möge derselben der deutschen Literatur ein sittlich-patriotisches Gepräge auf¬
drücken. Diese Akademie kam nicht zu Stande, und der Periode Klopstocks
und Lessings wollte es überhaupt nicht gelingen, die widerstrebenden und
nuseinandersahrenden Kräfte zu sammeln und zu einigen. Was aber Fürsten-


Grenzbotcn II. 18S9, 26
Ferdinand und Therese Huber.
i.

Es ist nicht bloße Neugier, wenn man bei der Geschichte unseres clas¬
sischen Zeitalters den Schriftstellern zweiten und dritten Ranges eine größere Auf- -
merksamkeit zuwendet, als sie ihrem innern Werth nach zu verdienen scheinen.
Um die Leistungen großer Dichter richtig zu würdigen, muß man sich ihr Ver¬
hältniß zur allgemeinen Bildung des Zeitalters versinnlichen; man muß wissen,
was sie von ihren Zeitgenossen empfingen, was sie ihnen gaben und was sie
ihnen waren. Bei den Griechen und Römern, bei den Spaniern und Fran¬
zosen, selbst bei den Italienern und Engländern läßt sich dies Verhältniß
Ziemlich deutlich ermessen; Publicum und Nation siel in gewissem Sinn zu¬
sammen, das ganze Culturleben hatte sich in einen Mittelpunkt gedrängt und
die Dichter hatten keine andere Aufgabe, als für dasselbe den ebenbürtigen'Ausdruck zu finden. In Deutschland wird es dem Geschichtschreiber nicht so
leicht. Zwar ist es auch dem Genius unmöglich, sich dem Boden zu ent¬
ziehen, auf dem er aufgewachsen ist, und ein tieferes Studium wird uns über¬
führen, daß unser classisches Zeitalter trotz seiner hellenistischen und ro¬
mantischen Tendenzen im letzten Grunde nur den deutschen Geist darstellt;
aber von diesem Zusammenhang eine sinnliche Anschauung zu geben, ist schwer,
weil das deutsche Leben so sehr auseinanderfiel. Andererseits ist es nicbt
genau, wenn man die freie Mannigfaltigkeit unserer Dichtung aus ihrer
Decentralisation herleitet. Im Gegentheil bestand in ihrer Blütezeit, die
freilich nur kurz dauerte, ein enger Zusammenhang zwischen allem, was ge¬
schrieben wurde, der in anderem Sinn, als Klopstock es gewollt, die Idee seiner
Gelehrtenrepublik verwirklichte. Nach Klopstocks Idee sollte Kaiser Joseph in
Wien eine Akademie errichten, deren Präsidium natürlich ihm zufiel, und ver¬
möge derselben der deutschen Literatur ein sittlich-patriotisches Gepräge auf¬
drücken. Diese Akademie kam nicht zu Stande, und der Periode Klopstocks
und Lessings wollte es überhaupt nicht gelingen, die widerstrebenden und
nuseinandersahrenden Kräfte zu sammeln und zu einigen. Was aber Fürsten-


Grenzbotcn II. 18S9, 26
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0211" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/107258"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Ferdinand und Therese Huber.</head><lb/>
          <div n="2">
            <head> i.</head><lb/>
            <p xml:id="ID_618" next="#ID_619"> Es ist nicht bloße Neugier, wenn man bei der Geschichte unseres clas¬<lb/>
sischen Zeitalters den Schriftstellern zweiten und dritten Ranges eine größere Auf- -<lb/>
merksamkeit zuwendet, als sie ihrem innern Werth nach zu verdienen scheinen.<lb/>
Um die Leistungen großer Dichter richtig zu würdigen, muß man sich ihr Ver¬<lb/>
hältniß zur allgemeinen Bildung des Zeitalters versinnlichen; man muß wissen,<lb/>
was sie von ihren Zeitgenossen empfingen, was sie ihnen gaben und was sie<lb/>
ihnen waren. Bei den Griechen und Römern, bei den Spaniern und Fran¬<lb/>
zosen, selbst bei den Italienern und Engländern läßt sich dies Verhältniß<lb/>
Ziemlich deutlich ermessen; Publicum und Nation siel in gewissem Sinn zu¬<lb/>
sammen, das ganze Culturleben hatte sich in einen Mittelpunkt gedrängt und<lb/>
die Dichter hatten keine andere Aufgabe, als für dasselbe den ebenbürtigen'Ausdruck zu finden. In Deutschland wird es dem Geschichtschreiber nicht so<lb/>
leicht. Zwar ist es auch dem Genius unmöglich, sich dem Boden zu ent¬<lb/>
ziehen, auf dem er aufgewachsen ist, und ein tieferes Studium wird uns über¬<lb/>
führen, daß unser classisches Zeitalter trotz seiner hellenistischen und ro¬<lb/>
mantischen Tendenzen im letzten Grunde nur den deutschen Geist darstellt;<lb/>
aber von diesem Zusammenhang eine sinnliche Anschauung zu geben, ist schwer,<lb/>
weil das deutsche Leben so sehr auseinanderfiel. Andererseits ist es nicbt<lb/>
genau, wenn man die freie Mannigfaltigkeit unserer Dichtung aus ihrer<lb/>
Decentralisation herleitet. Im Gegentheil bestand in ihrer Blütezeit, die<lb/>
freilich nur kurz dauerte, ein enger Zusammenhang zwischen allem, was ge¬<lb/>
schrieben wurde, der in anderem Sinn, als Klopstock es gewollt, die Idee seiner<lb/>
Gelehrtenrepublik verwirklichte. Nach Klopstocks Idee sollte Kaiser Joseph in<lb/>
Wien eine Akademie errichten, deren Präsidium natürlich ihm zufiel, und ver¬<lb/>
möge derselben der deutschen Literatur ein sittlich-patriotisches Gepräge auf¬<lb/>
drücken. Diese Akademie kam nicht zu Stande, und der Periode Klopstocks<lb/>
und Lessings wollte es überhaupt nicht gelingen, die widerstrebenden und<lb/>
nuseinandersahrenden Kräfte zu sammeln und zu einigen. Was aber Fürsten-</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grenzbotcn II. 18S9, 26</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0211] Ferdinand und Therese Huber. i. Es ist nicht bloße Neugier, wenn man bei der Geschichte unseres clas¬ sischen Zeitalters den Schriftstellern zweiten und dritten Ranges eine größere Auf- - merksamkeit zuwendet, als sie ihrem innern Werth nach zu verdienen scheinen. Um die Leistungen großer Dichter richtig zu würdigen, muß man sich ihr Ver¬ hältniß zur allgemeinen Bildung des Zeitalters versinnlichen; man muß wissen, was sie von ihren Zeitgenossen empfingen, was sie ihnen gaben und was sie ihnen waren. Bei den Griechen und Römern, bei den Spaniern und Fran¬ zosen, selbst bei den Italienern und Engländern läßt sich dies Verhältniß Ziemlich deutlich ermessen; Publicum und Nation siel in gewissem Sinn zu¬ sammen, das ganze Culturleben hatte sich in einen Mittelpunkt gedrängt und die Dichter hatten keine andere Aufgabe, als für dasselbe den ebenbürtigen'Ausdruck zu finden. In Deutschland wird es dem Geschichtschreiber nicht so leicht. Zwar ist es auch dem Genius unmöglich, sich dem Boden zu ent¬ ziehen, auf dem er aufgewachsen ist, und ein tieferes Studium wird uns über¬ führen, daß unser classisches Zeitalter trotz seiner hellenistischen und ro¬ mantischen Tendenzen im letzten Grunde nur den deutschen Geist darstellt; aber von diesem Zusammenhang eine sinnliche Anschauung zu geben, ist schwer, weil das deutsche Leben so sehr auseinanderfiel. Andererseits ist es nicbt genau, wenn man die freie Mannigfaltigkeit unserer Dichtung aus ihrer Decentralisation herleitet. Im Gegentheil bestand in ihrer Blütezeit, die freilich nur kurz dauerte, ein enger Zusammenhang zwischen allem, was ge¬ schrieben wurde, der in anderem Sinn, als Klopstock es gewollt, die Idee seiner Gelehrtenrepublik verwirklichte. Nach Klopstocks Idee sollte Kaiser Joseph in Wien eine Akademie errichten, deren Präsidium natürlich ihm zufiel, und ver¬ möge derselben der deutschen Literatur ein sittlich-patriotisches Gepräge auf¬ drücken. Diese Akademie kam nicht zu Stande, und der Periode Klopstocks und Lessings wollte es überhaupt nicht gelingen, die widerstrebenden und nuseinandersahrenden Kräfte zu sammeln und zu einigen. Was aber Fürsten- Grenzbotcn II. 18S9, 26

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107046
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107046/211
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107046/211>, abgerufen am 22.12.2024.