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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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Verführung als Erfordernis; des guten Tons. Eins der bezeichnendsten Symp¬
tome dieser heillosen Korruption ist der frevelhafte Leichtsinn, mit dem die
Ehen eingegangen und gelöst wurden. Unter Nero schrieb Seneca, es gebe
Frauen, die ihre Jahre nicht nach Consuln, sondern nach ihren Männern
zählten, und fünfzig Jahre später Juvenal, manche Frauen ließen sich schon
wieder scheiden, wenn die grünen Zweige noch nicht abgewelkt seien, die beim
Einzug der Neuvermählten die Hausthür schmückten, und brächten es so zu
acht Männern in fünf Jahren. Freilich sind dies Uebertreibungen, aber aus
welche Wirklichkeit lassen sie schließen! Beiläufig gesagt wurden betrogene Ehe¬
männer auch im Alterthum als Hörnerträger bezeichnet.

Uebrigens wird man durch die Literatur der Kaiserzeit leicht verleitet,
die Corruption der Frauen wie die sittlichen Zustände überhaupt schief auf¬
zufassen. Ihre Schwächen und Ausschweifungen sind ein Lieblingsthema für
Dichter und Schriftsteller, das sie bald mit Frivolität, bald sentimental, bald
mit sittlicher Entrüstung nach allen Seiten variirt haben. Es ist manchmal,
als ob es ihnen ein gewisses Behagen gewährte, daß die Frauen, wenn sie
einmal die Beute fesselloser Leidenschaften geworden waren, noch weiter fort¬
gerissen wurden, und sittlich noch tiefer sanken als die Männer: eine Erschei¬
nung, die sich in allen Perioden sittlichen Verfalls wiederholt hat. Aber man
darf nicht vergessen, wie viel Einflüsse in jener Zeit zusammenwirkten, um
das Leben der Frauen aus dem ihnen eignen Kreise des Hauses und der
Familie herauszudrängen, und die Entwicklung echter Weiblichkeit zu verküm¬
mern. Wenn sie in ruheloser Hast nach Eitelkeiten strebten, sich in frivolen
Zerstreuungen verloren, in Aufregungen und Genüssen berauschten, in der Be¬
friedigung ihrer Leidenschaften keine Schranken kannten, so tragen die Zu¬
stände des kaiserlichen Roms einen großen Theil der Schuld. Auch ist zu
bedeuten, daß alle Verirrungen und Ausschreitungen jener Zeit die Tendenz
hatten, ins Monströse und Kolossale zu gehen. Wenn die äußerste Entartung
damals häusiger war und sich in abschreckenderer Gestalt zeigt, als in irgend
einer andern Zeit, so würde es doch irrig sein, aus der Menge und Ungeheuer¬
lichkeit dieser extremen sittlichen Anomalien aus die Höhe der allgemeinen
Verderbniß zu schließen.




Irische Zustände.

Skizzen und Erzählungen aus Irland von A. Helfferich. Berlin 1858. I. Springer. --

Mit Daniel O'Connel ist die Repealsrage gestorben, mit Pater Mathew
die Temperanzsache verschollen. Irland hat keine Agitatoren und so auch
keine Agitation mehr, und nur selten berichten die Zeitungen noch von Vor-


Gienjbottn II. ^ 5

Verführung als Erfordernis; des guten Tons. Eins der bezeichnendsten Symp¬
tome dieser heillosen Korruption ist der frevelhafte Leichtsinn, mit dem die
Ehen eingegangen und gelöst wurden. Unter Nero schrieb Seneca, es gebe
Frauen, die ihre Jahre nicht nach Consuln, sondern nach ihren Männern
zählten, und fünfzig Jahre später Juvenal, manche Frauen ließen sich schon
wieder scheiden, wenn die grünen Zweige noch nicht abgewelkt seien, die beim
Einzug der Neuvermählten die Hausthür schmückten, und brächten es so zu
acht Männern in fünf Jahren. Freilich sind dies Uebertreibungen, aber aus
welche Wirklichkeit lassen sie schließen! Beiläufig gesagt wurden betrogene Ehe¬
männer auch im Alterthum als Hörnerträger bezeichnet.

Uebrigens wird man durch die Literatur der Kaiserzeit leicht verleitet,
die Corruption der Frauen wie die sittlichen Zustände überhaupt schief auf¬
zufassen. Ihre Schwächen und Ausschweifungen sind ein Lieblingsthema für
Dichter und Schriftsteller, das sie bald mit Frivolität, bald sentimental, bald
mit sittlicher Entrüstung nach allen Seiten variirt haben. Es ist manchmal,
als ob es ihnen ein gewisses Behagen gewährte, daß die Frauen, wenn sie
einmal die Beute fesselloser Leidenschaften geworden waren, noch weiter fort¬
gerissen wurden, und sittlich noch tiefer sanken als die Männer: eine Erschei¬
nung, die sich in allen Perioden sittlichen Verfalls wiederholt hat. Aber man
darf nicht vergessen, wie viel Einflüsse in jener Zeit zusammenwirkten, um
das Leben der Frauen aus dem ihnen eignen Kreise des Hauses und der
Familie herauszudrängen, und die Entwicklung echter Weiblichkeit zu verküm¬
mern. Wenn sie in ruheloser Hast nach Eitelkeiten strebten, sich in frivolen
Zerstreuungen verloren, in Aufregungen und Genüssen berauschten, in der Be¬
friedigung ihrer Leidenschaften keine Schranken kannten, so tragen die Zu¬
stände des kaiserlichen Roms einen großen Theil der Schuld. Auch ist zu
bedeuten, daß alle Verirrungen und Ausschreitungen jener Zeit die Tendenz
hatten, ins Monströse und Kolossale zu gehen. Wenn die äußerste Entartung
damals häusiger war und sich in abschreckenderer Gestalt zeigt, als in irgend
einer andern Zeit, so würde es doch irrig sein, aus der Menge und Ungeheuer¬
lichkeit dieser extremen sittlichen Anomalien aus die Höhe der allgemeinen
Verderbniß zu schließen.




Irische Zustände.

Skizzen und Erzählungen aus Irland von A. Helfferich. Berlin 1858. I. Springer. —

Mit Daniel O'Connel ist die Repealsrage gestorben, mit Pater Mathew
die Temperanzsache verschollen. Irland hat keine Agitatoren und so auch
keine Agitation mehr, und nur selten berichten die Zeitungen noch von Vor-


Gienjbottn II. ^ 5
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[0041] Verführung als Erfordernis; des guten Tons. Eins der bezeichnendsten Symp¬ tome dieser heillosen Korruption ist der frevelhafte Leichtsinn, mit dem die Ehen eingegangen und gelöst wurden. Unter Nero schrieb Seneca, es gebe Frauen, die ihre Jahre nicht nach Consuln, sondern nach ihren Männern zählten, und fünfzig Jahre später Juvenal, manche Frauen ließen sich schon wieder scheiden, wenn die grünen Zweige noch nicht abgewelkt seien, die beim Einzug der Neuvermählten die Hausthür schmückten, und brächten es so zu acht Männern in fünf Jahren. Freilich sind dies Uebertreibungen, aber aus welche Wirklichkeit lassen sie schließen! Beiläufig gesagt wurden betrogene Ehe¬ männer auch im Alterthum als Hörnerträger bezeichnet. Uebrigens wird man durch die Literatur der Kaiserzeit leicht verleitet, die Corruption der Frauen wie die sittlichen Zustände überhaupt schief auf¬ zufassen. Ihre Schwächen und Ausschweifungen sind ein Lieblingsthema für Dichter und Schriftsteller, das sie bald mit Frivolität, bald sentimental, bald mit sittlicher Entrüstung nach allen Seiten variirt haben. Es ist manchmal, als ob es ihnen ein gewisses Behagen gewährte, daß die Frauen, wenn sie einmal die Beute fesselloser Leidenschaften geworden waren, noch weiter fort¬ gerissen wurden, und sittlich noch tiefer sanken als die Männer: eine Erschei¬ nung, die sich in allen Perioden sittlichen Verfalls wiederholt hat. Aber man darf nicht vergessen, wie viel Einflüsse in jener Zeit zusammenwirkten, um das Leben der Frauen aus dem ihnen eignen Kreise des Hauses und der Familie herauszudrängen, und die Entwicklung echter Weiblichkeit zu verküm¬ mern. Wenn sie in ruheloser Hast nach Eitelkeiten strebten, sich in frivolen Zerstreuungen verloren, in Aufregungen und Genüssen berauschten, in der Be¬ friedigung ihrer Leidenschaften keine Schranken kannten, so tragen die Zu¬ stände des kaiserlichen Roms einen großen Theil der Schuld. Auch ist zu bedeuten, daß alle Verirrungen und Ausschreitungen jener Zeit die Tendenz hatten, ins Monströse und Kolossale zu gehen. Wenn die äußerste Entartung damals häusiger war und sich in abschreckenderer Gestalt zeigt, als in irgend einer andern Zeit, so würde es doch irrig sein, aus der Menge und Ungeheuer¬ lichkeit dieser extremen sittlichen Anomalien aus die Höhe der allgemeinen Verderbniß zu schließen. Irische Zustände. Skizzen und Erzählungen aus Irland von A. Helfferich. Berlin 1858. I. Springer. — Mit Daniel O'Connel ist die Repealsrage gestorben, mit Pater Mathew die Temperanzsache verschollen. Irland hat keine Agitatoren und so auch keine Agitation mehr, und nur selten berichten die Zeitungen noch von Vor- Gienjbottn II. ^ 5

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/41>, abgerufen am 30.12.2024.