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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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Die politischen Parteien in England.

Es ist eine weitverbreitete Meinung, die man in fast allen Zeitungen
wiederholt findet, daß die politischen Parteien in England einer vollständigen
Auflösung anheimgefallen seien, und daß deshalb die Dauer eines Ministe¬
riums von ganz andern Umständen bedingt sei, als früher. Der Grund für
diese Ansicht ist leicht in der parlamentarischen Geschichte Englands seit 1846
zu finden. Seitdem Sir Robert Peel durch seine Trennung von den Tones und
die Constituirung einer eignen Partei die alten Grenzlinien zerstörte, hat sich
keine neue feste Bildung erheben können, und die Gegner der repräsentativen
Regierung jubeln über den Bankrott der Majoritätenwirthschaft. Wir sind
nichts desto weniger der Ansicht, daß die parlamentarische Regierung und was
damit identisch ist, die Regierung durch Parteien, sich dauernd in England
behaupte" wird. Ohne Parteien, ihren Kampf und Compromiß gibt es keine
Volksvertretung, aber um dies Kampfspiel wirksam zu machen, bedarf es nicht
blos der Tradition einer politischen Meinungsverschiedenheit, sondern eines
wahrhaften Conflictes nationaler Interessen. Grade diese Conflicte aber haben
in der letzten Zeit gefehlt; man war über große Fragen entweder einer Mei¬
nung, wie z, B. in der letzten Session über die indische Regierung, oder ver¬
tagte ihre Lösung, wie die der parlamentarischen Reform. Daher war der
Sturz eines Ministeriums und die Bildung eines andern nicht wie früher
Niederlage und Sieg eines Princips, sondern schien von zufälligen und
nicht vorherzusehenden Umständen abhängig. Aber wenn die Spannung der
Parteien augenblicklich nachgelassen hat, so folgt daraus keineswegs, daß ent¬
gegengesetzte Interessen, wie sie unzweifelhaft im Parlament vertreten sind,
dauernd Hand in Hand gehen werden. Die Parteien sind dcsorganisirt, aber
sie sind nicht todt, sie warten auf eine große Frage, um sich ihr gegenüber
neu zu organisiren. Man darf nicht vergessen, daß alle großen parlamenta¬
rischen Parteien sich gebildet und erhalten haben, indem sie sich als Vorkäm¬
pfer von Grundsätzen aufstellten, für und gegen welche mächtige Classen der
Gesellschaft stritten. Whigs und Tones in der eigentlichen Bedeutung waren


Grenzboten III. 18S8. 46
Die politischen Parteien in England.

Es ist eine weitverbreitete Meinung, die man in fast allen Zeitungen
wiederholt findet, daß die politischen Parteien in England einer vollständigen
Auflösung anheimgefallen seien, und daß deshalb die Dauer eines Ministe¬
riums von ganz andern Umständen bedingt sei, als früher. Der Grund für
diese Ansicht ist leicht in der parlamentarischen Geschichte Englands seit 1846
zu finden. Seitdem Sir Robert Peel durch seine Trennung von den Tones und
die Constituirung einer eignen Partei die alten Grenzlinien zerstörte, hat sich
keine neue feste Bildung erheben können, und die Gegner der repräsentativen
Regierung jubeln über den Bankrott der Majoritätenwirthschaft. Wir sind
nichts desto weniger der Ansicht, daß die parlamentarische Regierung und was
damit identisch ist, die Regierung durch Parteien, sich dauernd in England
behaupte» wird. Ohne Parteien, ihren Kampf und Compromiß gibt es keine
Volksvertretung, aber um dies Kampfspiel wirksam zu machen, bedarf es nicht
blos der Tradition einer politischen Meinungsverschiedenheit, sondern eines
wahrhaften Conflictes nationaler Interessen. Grade diese Conflicte aber haben
in der letzten Zeit gefehlt; man war über große Fragen entweder einer Mei¬
nung, wie z, B. in der letzten Session über die indische Regierung, oder ver¬
tagte ihre Lösung, wie die der parlamentarischen Reform. Daher war der
Sturz eines Ministeriums und die Bildung eines andern nicht wie früher
Niederlage und Sieg eines Princips, sondern schien von zufälligen und
nicht vorherzusehenden Umständen abhängig. Aber wenn die Spannung der
Parteien augenblicklich nachgelassen hat, so folgt daraus keineswegs, daß ent¬
gegengesetzte Interessen, wie sie unzweifelhaft im Parlament vertreten sind,
dauernd Hand in Hand gehen werden. Die Parteien sind dcsorganisirt, aber
sie sind nicht todt, sie warten auf eine große Frage, um sich ihr gegenüber
neu zu organisiren. Man darf nicht vergessen, daß alle großen parlamenta¬
rischen Parteien sich gebildet und erhalten haben, indem sie sich als Vorkäm¬
pfer von Grundsätzen aufstellten, für und gegen welche mächtige Classen der
Gesellschaft stritten. Whigs und Tones in der eigentlichen Bedeutung waren


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[0369] Die politischen Parteien in England. Es ist eine weitverbreitete Meinung, die man in fast allen Zeitungen wiederholt findet, daß die politischen Parteien in England einer vollständigen Auflösung anheimgefallen seien, und daß deshalb die Dauer eines Ministe¬ riums von ganz andern Umständen bedingt sei, als früher. Der Grund für diese Ansicht ist leicht in der parlamentarischen Geschichte Englands seit 1846 zu finden. Seitdem Sir Robert Peel durch seine Trennung von den Tones und die Constituirung einer eignen Partei die alten Grenzlinien zerstörte, hat sich keine neue feste Bildung erheben können, und die Gegner der repräsentativen Regierung jubeln über den Bankrott der Majoritätenwirthschaft. Wir sind nichts desto weniger der Ansicht, daß die parlamentarische Regierung und was damit identisch ist, die Regierung durch Parteien, sich dauernd in England behaupte» wird. Ohne Parteien, ihren Kampf und Compromiß gibt es keine Volksvertretung, aber um dies Kampfspiel wirksam zu machen, bedarf es nicht blos der Tradition einer politischen Meinungsverschiedenheit, sondern eines wahrhaften Conflictes nationaler Interessen. Grade diese Conflicte aber haben in der letzten Zeit gefehlt; man war über große Fragen entweder einer Mei¬ nung, wie z, B. in der letzten Session über die indische Regierung, oder ver¬ tagte ihre Lösung, wie die der parlamentarischen Reform. Daher war der Sturz eines Ministeriums und die Bildung eines andern nicht wie früher Niederlage und Sieg eines Princips, sondern schien von zufälligen und nicht vorherzusehenden Umständen abhängig. Aber wenn die Spannung der Parteien augenblicklich nachgelassen hat, so folgt daraus keineswegs, daß ent¬ gegengesetzte Interessen, wie sie unzweifelhaft im Parlament vertreten sind, dauernd Hand in Hand gehen werden. Die Parteien sind dcsorganisirt, aber sie sind nicht todt, sie warten auf eine große Frage, um sich ihr gegenüber neu zu organisiren. Man darf nicht vergessen, daß alle großen parlamenta¬ rischen Parteien sich gebildet und erhalten haben, indem sie sich als Vorkäm¬ pfer von Grundsätzen aufstellten, für und gegen welche mächtige Classen der Gesellschaft stritten. Whigs und Tones in der eigentlichen Bedeutung waren Grenzboten III. 18S8. 46

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/369>, abgerufen am 22.07.2024.