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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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wenn ihm nicht ein Mann, der auf dem Felde arbeitete, zu Hilfe geeilt wäre
und ihm von dem steilen Ufer einen Springstock hinabgehalten hätte. Der
Ertrinkende griff zu, half sich aufs Trockne, stieß sich, aber dabei ein Auge aus.
Statt sich bei seinem Retter zu bedanken, verklagte er ihn auf dem Thing und
forderte Schadenersatz für das Auge. Die Richter wußten nicht, waS sie mit
der Klage thun sollten, der Kläger hatte recht, und doch schien es unnatürlich,
den Beklagten zu verurtheilen. Man verschob daher die Entscheidung auf die
nächste Sitzung. Allein die dritte kam, und noch immer wußte man nicht, was
man für ein Urtheil sprechen sollte. Da sah der Hardesvogt, der den Vorsitz
beim Thing führte, auf dem Wege nach Tondern, wo damals die Thingstätte
war, auf einem Steine drei Jungen sitzen, die sich über etwas Wichtiges zu
berathen schiene!?. Sie machten ihm so kluge und würdevslle Gesichter, baß
er neugierig sein Pferd anhielt und fragte, was sie da vorhätten^ Sie hielten
Thing über den Mann, der in die Widau gefallen wäre, lautete die Antwort.
"So, und^was habt ihr für einen Spruch gefunden?" fragte der Hardesvogt.
Sie waren noch nicht fertig damit, bald nachher aber vereinigten sie sich zu
dem Urtheile: der Gerettete soll an derselben Stelle, wo er damals ins Wasser
gefallen ist, wieder hineingestoßen werden. Kann er sich allein wieder heraus¬
helfen, so muß ihm sein damaliger Retter Buße für das Auge zahlen; wo
nicht, so hat der letztere gewonnen. Einer großen Last entledigt, griff der
Hardesvogt in die Tasche und gab den Jungen ein Stück Geld, ritt dann zu
Thinge und entschied, wie die Kinder gethan hatten. Jener Undankbare
aber konnte sich wirklich nicht selbst retten, und so gewann der andere den
Proceß. (Schluß im nächsten Heft).




Correspondenzen.

Die plötzliche Annahme des östreichischen Ultimatums durch die
Russen ist nicht das wenigst seltsame Ereigniß in diesem an Curioscm so reichen
Kriege. Alexander II. hat Europa wirklich überrascht und man sagt nicht mit Un¬
recht, daß Louis Napoleon, als man ihm die Nachricht von dieser Annahme mit¬
theilte, ausgerufen haben soll: "Dieser Muth der Überraschung verspricht Rußland
einen tüchtigen Herrscher und Europa den Frieden. Ich glaube an die Auf¬
richtigkeit dieser Annahme, denn wer in einem solchen Momente den Muth hat,
diese Annahme auszusprechen, der hat anch den Willen Wort zu halten." Der
Kaiser stand ziemlich allein in. seinem Glauben, den Staatsmännern diesseits wie
jenseits des Kanals wollte diese Aufrichtigkeit nicht einleuchten, den letztern, weil
sie ihnen unbequem war und einen Strich durch ihre Rechnung machte.

Früher, als der Krieg vorzüglich durch die (damals noch) minder gefährliche
Schießwaffe geführt wurde, kam es selten zum Handgemenge und der Gewinn oder


wenn ihm nicht ein Mann, der auf dem Felde arbeitete, zu Hilfe geeilt wäre
und ihm von dem steilen Ufer einen Springstock hinabgehalten hätte. Der
Ertrinkende griff zu, half sich aufs Trockne, stieß sich, aber dabei ein Auge aus.
Statt sich bei seinem Retter zu bedanken, verklagte er ihn auf dem Thing und
forderte Schadenersatz für das Auge. Die Richter wußten nicht, waS sie mit
der Klage thun sollten, der Kläger hatte recht, und doch schien es unnatürlich,
den Beklagten zu verurtheilen. Man verschob daher die Entscheidung auf die
nächste Sitzung. Allein die dritte kam, und noch immer wußte man nicht, was
man für ein Urtheil sprechen sollte. Da sah der Hardesvogt, der den Vorsitz
beim Thing führte, auf dem Wege nach Tondern, wo damals die Thingstätte
war, auf einem Steine drei Jungen sitzen, die sich über etwas Wichtiges zu
berathen schiene!?. Sie machten ihm so kluge und würdevslle Gesichter, baß
er neugierig sein Pferd anhielt und fragte, was sie da vorhätten^ Sie hielten
Thing über den Mann, der in die Widau gefallen wäre, lautete die Antwort.
„So, und^was habt ihr für einen Spruch gefunden?" fragte der Hardesvogt.
Sie waren noch nicht fertig damit, bald nachher aber vereinigten sie sich zu
dem Urtheile: der Gerettete soll an derselben Stelle, wo er damals ins Wasser
gefallen ist, wieder hineingestoßen werden. Kann er sich allein wieder heraus¬
helfen, so muß ihm sein damaliger Retter Buße für das Auge zahlen; wo
nicht, so hat der letztere gewonnen. Einer großen Last entledigt, griff der
Hardesvogt in die Tasche und gab den Jungen ein Stück Geld, ritt dann zu
Thinge und entschied, wie die Kinder gethan hatten. Jener Undankbare
aber konnte sich wirklich nicht selbst retten, und so gewann der andere den
Proceß. (Schluß im nächsten Heft).




Correspondenzen.

Die plötzliche Annahme des östreichischen Ultimatums durch die
Russen ist nicht das wenigst seltsame Ereigniß in diesem an Curioscm so reichen
Kriege. Alexander II. hat Europa wirklich überrascht und man sagt nicht mit Un¬
recht, daß Louis Napoleon, als man ihm die Nachricht von dieser Annahme mit¬
theilte, ausgerufen haben soll: „Dieser Muth der Überraschung verspricht Rußland
einen tüchtigen Herrscher und Europa den Frieden. Ich glaube an die Auf¬
richtigkeit dieser Annahme, denn wer in einem solchen Momente den Muth hat,
diese Annahme auszusprechen, der hat anch den Willen Wort zu halten." Der
Kaiser stand ziemlich allein in. seinem Glauben, den Staatsmännern diesseits wie
jenseits des Kanals wollte diese Aufrichtigkeit nicht einleuchten, den letztern, weil
sie ihnen unbequem war und einen Strich durch ihre Rechnung machte.

Früher, als der Krieg vorzüglich durch die (damals noch) minder gefährliche
Schießwaffe geführt wurde, kam es selten zum Handgemenge und der Gewinn oder


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/480>, abgerufen am 23.07.2024.