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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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Die Leipziger Abonnementconcerte im Winter 1854--55.
3.

Bei einem prüfenden Ueberblick über die zweite Hälfte der letzten Conccrt-
saison tritt wenigstens ein Concert, das vierzehnte, hervor, das durch einheitlichen
Charakter und Bedeutung der aufgeführten Compositionen eines großartigen
Concertinstituts würdig war. Cherubinis Requiem in C>moI1 machte den
Hauptinhalt des Concerts aus und man konnte es fast bedauern, daß demsel¬
ben noch Schumanns Ouvertüre zu Manfred vorausgeschickt war, da diese
in ihrem unruhigen, zerrissenen Wesen wol geeignet ist, auf Byrons Manfred
vorzubereiten, aber nicht auf ein Requiem, wenn dasselbe auch in so indivi¬
dueller Weise, so ganz aus moderner Anschauung und Empfindung heraus
aufgefaßt ist, wie das Cherubinische. Es gehört unzweifelhaft zu den vollen¬
detsten Werken dieses großen Meisters, in dem das leidenschaftliche Feuer
des Jtalieners mit der geistreichen Feinheit des Franzosen sich so wunderbar
durchdringen und durch einen Ernst und eine Strenge gebunden sind, wie sie
in beiden Nationen sich selten finden. Die Eigenthümlichkeit und Größe der
Auffassung, die unerbittliche Konsequenz und Festigkeit, mit welcher die einfachen
Elemente zur kunstreichen Form ausgebildet werden, die Sauberkeit und Sicher¬
heit des Details, die sparsame und überall in der rechten Weise wirksame
Oekonomie der Mittel, alles verräth den großen Sinn und die sichere Hand
eines wahren Künstlers. Bewundernswerth ist es, wie ein Tonstück von die¬
sem Umfang durchgehends vom vollen Chor vorgetragen, nirgend das Verlangen
nach Abwechslung durch Solostimmen erweckt, sondern ausdauernd spannt und
befriedigt, so daß man erst später sich darauf besinnt, daß man gar kein Solo
gehört hat. Interessant ist es auch, die Verschiedenheit der Auffassung und
des Stils in denjenigen Theilen des Requiem, welche dem Ritus der Todten-
messe angehören, und in dem eingelegten Dies irae zu beobachten. Jene sind
durchgehends einfacher und strenger gehalten, als ein frommes gläubiges Ge¬
bet, das allerdings im Ausdruck sehr verschiedene Nuancen zuläßt, aber nie
vergißt, daß es dem Gottesdienst angehört und in ihm die Gemeinde sich Gott
zuwendet. Dagegen ist das Dies irae wie eine prophetische Vision, die dem


Grenzten. II. 1866. 36
Die Leipziger Abonnementconcerte im Winter 1854—55.
3.

Bei einem prüfenden Ueberblick über die zweite Hälfte der letzten Conccrt-
saison tritt wenigstens ein Concert, das vierzehnte, hervor, das durch einheitlichen
Charakter und Bedeutung der aufgeführten Compositionen eines großartigen
Concertinstituts würdig war. Cherubinis Requiem in C>moI1 machte den
Hauptinhalt des Concerts aus und man konnte es fast bedauern, daß demsel¬
ben noch Schumanns Ouvertüre zu Manfred vorausgeschickt war, da diese
in ihrem unruhigen, zerrissenen Wesen wol geeignet ist, auf Byrons Manfred
vorzubereiten, aber nicht auf ein Requiem, wenn dasselbe auch in so indivi¬
dueller Weise, so ganz aus moderner Anschauung und Empfindung heraus
aufgefaßt ist, wie das Cherubinische. Es gehört unzweifelhaft zu den vollen¬
detsten Werken dieses großen Meisters, in dem das leidenschaftliche Feuer
des Jtalieners mit der geistreichen Feinheit des Franzosen sich so wunderbar
durchdringen und durch einen Ernst und eine Strenge gebunden sind, wie sie
in beiden Nationen sich selten finden. Die Eigenthümlichkeit und Größe der
Auffassung, die unerbittliche Konsequenz und Festigkeit, mit welcher die einfachen
Elemente zur kunstreichen Form ausgebildet werden, die Sauberkeit und Sicher¬
heit des Details, die sparsame und überall in der rechten Weise wirksame
Oekonomie der Mittel, alles verräth den großen Sinn und die sichere Hand
eines wahren Künstlers. Bewundernswerth ist es, wie ein Tonstück von die¬
sem Umfang durchgehends vom vollen Chor vorgetragen, nirgend das Verlangen
nach Abwechslung durch Solostimmen erweckt, sondern ausdauernd spannt und
befriedigt, so daß man erst später sich darauf besinnt, daß man gar kein Solo
gehört hat. Interessant ist es auch, die Verschiedenheit der Auffassung und
des Stils in denjenigen Theilen des Requiem, welche dem Ritus der Todten-
messe angehören, und in dem eingelegten Dies irae zu beobachten. Jene sind
durchgehends einfacher und strenger gehalten, als ein frommes gläubiges Ge¬
bet, das allerdings im Ausdruck sehr verschiedene Nuancen zuläßt, aber nie
vergißt, daß es dem Gottesdienst angehört und in ihm die Gemeinde sich Gott
zuwendet. Dagegen ist das Dies irae wie eine prophetische Vision, die dem


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[0289] Die Leipziger Abonnementconcerte im Winter 1854—55. 3. Bei einem prüfenden Ueberblick über die zweite Hälfte der letzten Conccrt- saison tritt wenigstens ein Concert, das vierzehnte, hervor, das durch einheitlichen Charakter und Bedeutung der aufgeführten Compositionen eines großartigen Concertinstituts würdig war. Cherubinis Requiem in C>moI1 machte den Hauptinhalt des Concerts aus und man konnte es fast bedauern, daß demsel¬ ben noch Schumanns Ouvertüre zu Manfred vorausgeschickt war, da diese in ihrem unruhigen, zerrissenen Wesen wol geeignet ist, auf Byrons Manfred vorzubereiten, aber nicht auf ein Requiem, wenn dasselbe auch in so indivi¬ dueller Weise, so ganz aus moderner Anschauung und Empfindung heraus aufgefaßt ist, wie das Cherubinische. Es gehört unzweifelhaft zu den vollen¬ detsten Werken dieses großen Meisters, in dem das leidenschaftliche Feuer des Jtalieners mit der geistreichen Feinheit des Franzosen sich so wunderbar durchdringen und durch einen Ernst und eine Strenge gebunden sind, wie sie in beiden Nationen sich selten finden. Die Eigenthümlichkeit und Größe der Auffassung, die unerbittliche Konsequenz und Festigkeit, mit welcher die einfachen Elemente zur kunstreichen Form ausgebildet werden, die Sauberkeit und Sicher¬ heit des Details, die sparsame und überall in der rechten Weise wirksame Oekonomie der Mittel, alles verräth den großen Sinn und die sichere Hand eines wahren Künstlers. Bewundernswerth ist es, wie ein Tonstück von die¬ sem Umfang durchgehends vom vollen Chor vorgetragen, nirgend das Verlangen nach Abwechslung durch Solostimmen erweckt, sondern ausdauernd spannt und befriedigt, so daß man erst später sich darauf besinnt, daß man gar kein Solo gehört hat. Interessant ist es auch, die Verschiedenheit der Auffassung und des Stils in denjenigen Theilen des Requiem, welche dem Ritus der Todten- messe angehören, und in dem eingelegten Dies irae zu beobachten. Jene sind durchgehends einfacher und strenger gehalten, als ein frommes gläubiges Ge¬ bet, das allerdings im Ausdruck sehr verschiedene Nuancen zuläßt, aber nie vergißt, daß es dem Gottesdienst angehört und in ihm die Gemeinde sich Gott zuwendet. Dagegen ist das Dies irae wie eine prophetische Vision, die dem Grenzten. II. 1866. 36

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/289>, abgerufen am 05.12.2024.