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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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l'IZvuöi!) streifen schon mehr ins Melodramatische. Außer seinem ersten Theater¬
stück hat er noch ein zweites geschrieben: NaZ^me ä<z VMarrnaie. Noch ist
ein Werk zu erwähnen, welches 1838 in der legitjmistischen France et Europe
erschien: l^e vivill-ii-cZ amoureux. -- Bernard starb zu Sablonville, 6. März
18S0, nachdem er schon einige Jahre, infolge einer organischen Krankheit, in
völliger Einsamkeit gelebt.

Bernard gehört zu derjenigen Classe der Literatur, welche für den feinern
Geschmack einer auserwählten Gesellschaft berechnet ist und sich ebendeshalb
keiner überwiegenden Popularität erfreut; eine saubere, sehr zierliche Zeichnung
des Details, feine, aber nicht massenhafte und überwältigende Beobachtung,
Ueberwiegen der Reflexion über die Erfindung. In jener Zeit, als V. Hugo,
Balzac, G. Sand, Dumas, E. Sue mit ihrer sprudelnden Erfindungskraft
die ganze Literatur überschütteten, konnten diese zarteren Dichtungen keinen
Eingang finden. Gegenwärtig ist im Geschmack des französischen Publicums
eine große Reaction eingetreten; man ist der heftigen Eindrücke satt und sehnt
sich wieder nach aristokratischen Genüssen. So ist es begreiflich, daß grade in
diesem Augenblicke Bernards Schriften wieder hervorgesucht und mit größerer
Andacht als früher gelesen werden. Mehre darunter verdienen auch in der
That die unbedingte Anerkennung jedes Freundes der Literatur, doch können
wir uns mit dem herrschenden Geiste seiner Schriften in keiner Weise einver¬
standen erklären. Unter dem Anschein einer gelassenen Frivolität verbirgt der
Dichter einen leidenschaftlichen Pessimismus. Er sieht von der menschlichen Natur
vorzugsweise die Schattenseiten, und wenn man nach dem unmittelbaren Ein¬
druck seiner Dichtungen urtheilen wollte,, so müßte man ihm alle Achtung für
Tugend und Recht absprechen und die unbedingte Vergötterung des Verstan¬
des und der Willenskraft in ihm finden. Eigentlich meint er es aber nicht
so; er will nicht seine Ideale,, sondern die vermeintliche Wirklichkeit schildern:
ein Irrthum, in den ein schwarzsichtiger Dichter leicht verfällt. Grade weil
diese Novellen mit einem so außerordentlichen Talent geschrieben sind, muß
man vor ihnen warnen; denn wir sind ohnehin an unsern Idealen schon so
irre geworden, daß jeder scheinbare Realist, der uns mit Geist und Talent die
Schattenseiten des Lebens ausschließt, uns nur noch in weitere Abwege
führt. --


l^s iluvllö-isv ä'UilNiipitl' psr Kllmonä Ivxier. vruxellos Le l-vipsix, Kies8linx
N t^ump. --

In diesem Roman finden wir uns auf dem reinsten Boden des Melo¬
dram. Mit einer Phantasie, deren sich E. Sue nicht schämen dürfte, wird
die Niederträchtigkeit und das Verbrechen zum Gegenstand der Dichtung ge¬
macht und die unglaublichsten und unerhörtesten Erfindungen uns als etwas
Gewöhnliches und Natürliches dargeboten. --


Grenzboten. I. Hg

l'IZvuöi!) streifen schon mehr ins Melodramatische. Außer seinem ersten Theater¬
stück hat er noch ein zweites geschrieben: NaZ^me ä<z VMarrnaie. Noch ist
ein Werk zu erwähnen, welches 1838 in der legitjmistischen France et Europe
erschien: l^e vivill-ii-cZ amoureux. — Bernard starb zu Sablonville, 6. März
18S0, nachdem er schon einige Jahre, infolge einer organischen Krankheit, in
völliger Einsamkeit gelebt.

Bernard gehört zu derjenigen Classe der Literatur, welche für den feinern
Geschmack einer auserwählten Gesellschaft berechnet ist und sich ebendeshalb
keiner überwiegenden Popularität erfreut; eine saubere, sehr zierliche Zeichnung
des Details, feine, aber nicht massenhafte und überwältigende Beobachtung,
Ueberwiegen der Reflexion über die Erfindung. In jener Zeit, als V. Hugo,
Balzac, G. Sand, Dumas, E. Sue mit ihrer sprudelnden Erfindungskraft
die ganze Literatur überschütteten, konnten diese zarteren Dichtungen keinen
Eingang finden. Gegenwärtig ist im Geschmack des französischen Publicums
eine große Reaction eingetreten; man ist der heftigen Eindrücke satt und sehnt
sich wieder nach aristokratischen Genüssen. So ist es begreiflich, daß grade in
diesem Augenblicke Bernards Schriften wieder hervorgesucht und mit größerer
Andacht als früher gelesen werden. Mehre darunter verdienen auch in der
That die unbedingte Anerkennung jedes Freundes der Literatur, doch können
wir uns mit dem herrschenden Geiste seiner Schriften in keiner Weise einver¬
standen erklären. Unter dem Anschein einer gelassenen Frivolität verbirgt der
Dichter einen leidenschaftlichen Pessimismus. Er sieht von der menschlichen Natur
vorzugsweise die Schattenseiten, und wenn man nach dem unmittelbaren Ein¬
druck seiner Dichtungen urtheilen wollte,, so müßte man ihm alle Achtung für
Tugend und Recht absprechen und die unbedingte Vergötterung des Verstan¬
des und der Willenskraft in ihm finden. Eigentlich meint er es aber nicht
so; er will nicht seine Ideale,, sondern die vermeintliche Wirklichkeit schildern:
ein Irrthum, in den ein schwarzsichtiger Dichter leicht verfällt. Grade weil
diese Novellen mit einem so außerordentlichen Talent geschrieben sind, muß
man vor ihnen warnen; denn wir sind ohnehin an unsern Idealen schon so
irre geworden, daß jeder scheinbare Realist, der uns mit Geist und Talent die
Schattenseiten des Lebens ausschließt, uns nur noch in weitere Abwege
führt. —


l^s iluvllö-isv ä'UilNiipitl' psr Kllmonä Ivxier. vruxellos Le l-vipsix, Kies8linx
N t^ump. —

In diesem Roman finden wir uns auf dem reinsten Boden des Melo¬
dram. Mit einer Phantasie, deren sich E. Sue nicht schämen dürfte, wird
die Niederträchtigkeit und das Verbrechen zum Gegenstand der Dichtung ge¬
macht und die unglaublichsten und unerhörtesten Erfindungen uns als etwas
Gewöhnliches und Natürliches dargeboten. —


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[0401] l'IZvuöi!) streifen schon mehr ins Melodramatische. Außer seinem ersten Theater¬ stück hat er noch ein zweites geschrieben: NaZ^me ä<z VMarrnaie. Noch ist ein Werk zu erwähnen, welches 1838 in der legitjmistischen France et Europe erschien: l^e vivill-ii-cZ amoureux. — Bernard starb zu Sablonville, 6. März 18S0, nachdem er schon einige Jahre, infolge einer organischen Krankheit, in völliger Einsamkeit gelebt. Bernard gehört zu derjenigen Classe der Literatur, welche für den feinern Geschmack einer auserwählten Gesellschaft berechnet ist und sich ebendeshalb keiner überwiegenden Popularität erfreut; eine saubere, sehr zierliche Zeichnung des Details, feine, aber nicht massenhafte und überwältigende Beobachtung, Ueberwiegen der Reflexion über die Erfindung. In jener Zeit, als V. Hugo, Balzac, G. Sand, Dumas, E. Sue mit ihrer sprudelnden Erfindungskraft die ganze Literatur überschütteten, konnten diese zarteren Dichtungen keinen Eingang finden. Gegenwärtig ist im Geschmack des französischen Publicums eine große Reaction eingetreten; man ist der heftigen Eindrücke satt und sehnt sich wieder nach aristokratischen Genüssen. So ist es begreiflich, daß grade in diesem Augenblicke Bernards Schriften wieder hervorgesucht und mit größerer Andacht als früher gelesen werden. Mehre darunter verdienen auch in der That die unbedingte Anerkennung jedes Freundes der Literatur, doch können wir uns mit dem herrschenden Geiste seiner Schriften in keiner Weise einver¬ standen erklären. Unter dem Anschein einer gelassenen Frivolität verbirgt der Dichter einen leidenschaftlichen Pessimismus. Er sieht von der menschlichen Natur vorzugsweise die Schattenseiten, und wenn man nach dem unmittelbaren Ein¬ druck seiner Dichtungen urtheilen wollte,, so müßte man ihm alle Achtung für Tugend und Recht absprechen und die unbedingte Vergötterung des Verstan¬ des und der Willenskraft in ihm finden. Eigentlich meint er es aber nicht so; er will nicht seine Ideale,, sondern die vermeintliche Wirklichkeit schildern: ein Irrthum, in den ein schwarzsichtiger Dichter leicht verfällt. Grade weil diese Novellen mit einem so außerordentlichen Talent geschrieben sind, muß man vor ihnen warnen; denn wir sind ohnehin an unsern Idealen schon so irre geworden, daß jeder scheinbare Realist, der uns mit Geist und Talent die Schattenseiten des Lebens ausschließt, uns nur noch in weitere Abwege führt. — l^s iluvllö-isv ä'UilNiipitl' psr Kllmonä Ivxier. vruxellos Le l-vipsix, Kies8linx N t^ump. — In diesem Roman finden wir uns auf dem reinsten Boden des Melo¬ dram. Mit einer Phantasie, deren sich E. Sue nicht schämen dürfte, wird die Niederträchtigkeit und das Verbrechen zum Gegenstand der Dichtung ge¬ macht und die unglaublichsten und unerhörtesten Erfindungen uns als etwas Gewöhnliches und Natürliches dargeboten. — Grenzboten. I. Hg

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/401>, abgerufen am 22.07.2024.