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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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bezaubernd, und es ist gut, daß das deutsche Publicum bisweilen daran er¬
innert wird, daß die Türkei nicht grade ein Musterstaat ist. Wir haben uns
der Türkei angenommen, weil bei der gegenwärtigen Conjunctur der europäischen
Verhältnisse der Untergang dieses Staats der nächste Schritt zur russischen
Weltherrschaft sein würde; allein wir wollen uns doch sehr davor hüten, unsre
Sache mit der Sache der Türken zu identificiren. Die Geschichte vom "kranken
Mann" ist keine Erfindung des russischen Kaisers; der Mann ist wirklich krank,
sehr ernstlich krank, und wenn im gegenwärtigen Augenblick die europäischen
Aerzte sich gezwungen sehen, sein Leben durch allerhand künstliche Mittel so¬
lange als möglich zu erhalten,< weil sein Tod die verhängnißvollsten Folgen
nach sich ziehen würde, so müssen wir doch darauf gefaßt sein, daß diese Even¬
tualität früher oder später wirklich einmal eintritt. Welchen Ausgang auch
die gegenwärtige Krisis haben möge, es ist jedenfalls noch nicht der letzte Act
deö großen Dramas, und wir wollen hoffen, daß, wenn wirklich die letzte
Stunde eintritt, das civilisirte Europa sich gegen den Feind ebenso wohlgerüstet
finden möge, als im gegenwärtigen Augenblick. -- Die Begebenheiten des
Lieutenant Royer verdienen auch insofern Beachtung, als sie uns die russische
Gastfreundschaft in einem bessern Lichte zeigen, als man sich gewöhnlich vor¬
stellt. Leider sind in dem wünschen Kampf von Seite der Russen Dinge ver¬
übt worden, die uns empören müssen; es ist also immer erfreulich, zu hören,
daß diese Barbarei wenigstens nicht in der Natur der Russen liegt, daß sie sich
gegen ihre ersten Gefangenen so benommen haben, wie es der edle Feind dem
edlen Feinde schuldig ist. --




Bon Konstantinopel in das schwarze Meer.
^ ^-^.^
Der Bosporus.

Die Landschaft um uns her, wenn wir Konstantinopel' auf nordwärts
steuernden Schiff verlassen, d. h. den Seeweg des Bosporus einschlagen, um
ins schwarze Meer einzusegeln,^ gestaltet sich, es ist wahr, minder großartig,
wie bei der Fahrt gen Südwesten mitten durch die blaugrünen Wogen der
Propontis. Vor allem fehlt der weite Horizont, die unermeßliche Fernsicht,
die immer gewaltiger wirkt, jemehr das brausende Rad des Dampfers uns auf
die Höhe der See hinausgetrieben hat, bis endlich scheinbar in gleicher Ent¬
fernung das häuserbedeckte, kuppelnüberragte Stambuler Dreieck und der
schneegekrönte, im Sonnenschein leuchtende Olymp von Bythinien den Gesichts¬
kreis nach entgegengesetzten Richtungen hin abstecken.


bezaubernd, und es ist gut, daß das deutsche Publicum bisweilen daran er¬
innert wird, daß die Türkei nicht grade ein Musterstaat ist. Wir haben uns
der Türkei angenommen, weil bei der gegenwärtigen Conjunctur der europäischen
Verhältnisse der Untergang dieses Staats der nächste Schritt zur russischen
Weltherrschaft sein würde; allein wir wollen uns doch sehr davor hüten, unsre
Sache mit der Sache der Türken zu identificiren. Die Geschichte vom „kranken
Mann" ist keine Erfindung des russischen Kaisers; der Mann ist wirklich krank,
sehr ernstlich krank, und wenn im gegenwärtigen Augenblick die europäischen
Aerzte sich gezwungen sehen, sein Leben durch allerhand künstliche Mittel so¬
lange als möglich zu erhalten,< weil sein Tod die verhängnißvollsten Folgen
nach sich ziehen würde, so müssen wir doch darauf gefaßt sein, daß diese Even¬
tualität früher oder später wirklich einmal eintritt. Welchen Ausgang auch
die gegenwärtige Krisis haben möge, es ist jedenfalls noch nicht der letzte Act
deö großen Dramas, und wir wollen hoffen, daß, wenn wirklich die letzte
Stunde eintritt, das civilisirte Europa sich gegen den Feind ebenso wohlgerüstet
finden möge, als im gegenwärtigen Augenblick. — Die Begebenheiten des
Lieutenant Royer verdienen auch insofern Beachtung, als sie uns die russische
Gastfreundschaft in einem bessern Lichte zeigen, als man sich gewöhnlich vor¬
stellt. Leider sind in dem wünschen Kampf von Seite der Russen Dinge ver¬
übt worden, die uns empören müssen; es ist also immer erfreulich, zu hören,
daß diese Barbarei wenigstens nicht in der Natur der Russen liegt, daß sie sich
gegen ihre ersten Gefangenen so benommen haben, wie es der edle Feind dem
edlen Feinde schuldig ist. —




Bon Konstantinopel in das schwarze Meer.
^ ^-^.^
Der Bosporus.

Die Landschaft um uns her, wenn wir Konstantinopel' auf nordwärts
steuernden Schiff verlassen, d. h. den Seeweg des Bosporus einschlagen, um
ins schwarze Meer einzusegeln,^ gestaltet sich, es ist wahr, minder großartig,
wie bei der Fahrt gen Südwesten mitten durch die blaugrünen Wogen der
Propontis. Vor allem fehlt der weite Horizont, die unermeßliche Fernsicht,
die immer gewaltiger wirkt, jemehr das brausende Rad des Dampfers uns auf
die Höhe der See hinausgetrieben hat, bis endlich scheinbar in gleicher Ent¬
fernung das häuserbedeckte, kuppelnüberragte Stambuler Dreieck und der
schneegekrönte, im Sonnenschein leuchtende Olymp von Bythinien den Gesichts¬
kreis nach entgegengesetzten Richtungen hin abstecken.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/190>, abgerufen am 22.07.2024.