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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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Frankreich findet Erwähnung und wird in Hinsicht auf die russischen Verthei¬
digungsmaßregeln näher erörtert. .

Ich will im Nachfolgenden etwas Aehnliches versuchen, und zwar stelle ich es
mir zur Aufgabe, nach Maßgabe der Wahrscheinlichkeit die strategischen Grund¬
sätze ausfindig zu macheu, auf welche gestützt Rußland den Defensivkrieg gegen
die Westmächte führen wird.

In diesem Augenblick befindet sich der Zar allerdings noch mehr in der Lage
des Angreifenden, als in der entgegengesetzten. Nicht genug, daß seine Armee
über den Pruth gegangen, in die Walachei eingebrochen ist und dieselbe besetzt
hat: sie überschritt jüngst auch die Donau, nahm die Dobrudscha in Besitz und
wird ehestens versuchen, festen Fuß im eigentlichen Bulgarien zu fassen. Aber
alle diese Facken widerlegen durchaus nicht die Behauptung, daß der Angriff
zum Stehen kommen und in die entgegengesetzte Form der Kriegführung, d. h.
in die Vertheidigung umschlagen muß, sobald die französisch-englischen Streitkräfte
bei der Entscheidung mitzuwiegen anfangen. Man hat diesen Umschlag bereits
ans den Defenstonsanstalten an den baltischen Küsten und denen des schwarzen
Meeres herauslesen wollen, was allerdings ein Irrthum ist, denn derartige Ma߬
regeln bleiben unter allen.Umständen für Rußland unerläßlich, falls nicht Sund,
Belt und Dardanellen in seinen Händen sind. Mit der Form der sonstigen
Kriegführung haben dieselben nicht das mindeste zu schassen, gleichwie Napoleons I.
Vertheidigungsanstalten auf der atlantischen und mittelmeevlichen Küste nicht im
geringsten bedingend für seine Operationen in Deutschland und Italien waren.

Um es also noch einmal zu wiederholen: bis zum Augenblick ist es noch
Nußland, welches sich in offensiver Position befindet; diese Stellung aber wird
mit dem ersten Austreten der westlichen Heereskräfte ihr Ende erreichen. Die¬
jenigen, welche an die qualitative Ueberlegenheit der westlichen Armeen über die
russischen nicht glauben, können wir, um unsrer Betrachtung Halt zu geben,
auf das numerische Uebergewicht derselben verweisen. Bei Vertheidigung der
Donau haben sich seither die Türken den Russen mindestens ebenbürtig erwiesen.
Wir sind demnach im vollen Recht, wenn wir sie in den vergleichenden Stärken-
Calcül ihrem ganzen Zahlenwerthe nach aufnehmen. Die Franzosen und Eng-
länder zusammen nur auf 60,000 Mann angeschlagen ergibt diese Rechnung den
Russen gegenüber eine Heeresmacht von mindestens 200,000 Mann, wogegen es
evident ist, daß die letzteren nicht zwei Drittel dieser Summe in Bulgarien zu
concentriren im Stande sein werden.

Wem dieser Beweis gegen die Möglichkeit einer russischen Offensive noch
nicht genügt, den erinnern wir daran, daß der Zar, falls er wirklich im Stande
wäre, seine Armee bis ub.er den Balkan vorzuschieben, dadurch die Ausdehnung
des Gebiets, welches'er seewärts zu vertheidigen hat, nutzlos vergrößern'würde;
dnß er eine Naumstrecke militärisch zu occupiren hätte, die der Walachei an Aus-


Frankreich findet Erwähnung und wird in Hinsicht auf die russischen Verthei¬
digungsmaßregeln näher erörtert. .

Ich will im Nachfolgenden etwas Aehnliches versuchen, und zwar stelle ich es
mir zur Aufgabe, nach Maßgabe der Wahrscheinlichkeit die strategischen Grund¬
sätze ausfindig zu macheu, auf welche gestützt Rußland den Defensivkrieg gegen
die Westmächte führen wird.

In diesem Augenblick befindet sich der Zar allerdings noch mehr in der Lage
des Angreifenden, als in der entgegengesetzten. Nicht genug, daß seine Armee
über den Pruth gegangen, in die Walachei eingebrochen ist und dieselbe besetzt
hat: sie überschritt jüngst auch die Donau, nahm die Dobrudscha in Besitz und
wird ehestens versuchen, festen Fuß im eigentlichen Bulgarien zu fassen. Aber
alle diese Facken widerlegen durchaus nicht die Behauptung, daß der Angriff
zum Stehen kommen und in die entgegengesetzte Form der Kriegführung, d. h.
in die Vertheidigung umschlagen muß, sobald die französisch-englischen Streitkräfte
bei der Entscheidung mitzuwiegen anfangen. Man hat diesen Umschlag bereits
ans den Defenstonsanstalten an den baltischen Küsten und denen des schwarzen
Meeres herauslesen wollen, was allerdings ein Irrthum ist, denn derartige Ma߬
regeln bleiben unter allen.Umständen für Rußland unerläßlich, falls nicht Sund,
Belt und Dardanellen in seinen Händen sind. Mit der Form der sonstigen
Kriegführung haben dieselben nicht das mindeste zu schassen, gleichwie Napoleons I.
Vertheidigungsanstalten auf der atlantischen und mittelmeevlichen Küste nicht im
geringsten bedingend für seine Operationen in Deutschland und Italien waren.

Um es also noch einmal zu wiederholen: bis zum Augenblick ist es noch
Nußland, welches sich in offensiver Position befindet; diese Stellung aber wird
mit dem ersten Austreten der westlichen Heereskräfte ihr Ende erreichen. Die¬
jenigen, welche an die qualitative Ueberlegenheit der westlichen Armeen über die
russischen nicht glauben, können wir, um unsrer Betrachtung Halt zu geben,
auf das numerische Uebergewicht derselben verweisen. Bei Vertheidigung der
Donau haben sich seither die Türken den Russen mindestens ebenbürtig erwiesen.
Wir sind demnach im vollen Recht, wenn wir sie in den vergleichenden Stärken-
Calcül ihrem ganzen Zahlenwerthe nach aufnehmen. Die Franzosen und Eng-
länder zusammen nur auf 60,000 Mann angeschlagen ergibt diese Rechnung den
Russen gegenüber eine Heeresmacht von mindestens 200,000 Mann, wogegen es
evident ist, daß die letzteren nicht zwei Drittel dieser Summe in Bulgarien zu
concentriren im Stande sein werden.

Wem dieser Beweis gegen die Möglichkeit einer russischen Offensive noch
nicht genügt, den erinnern wir daran, daß der Zar, falls er wirklich im Stande
wäre, seine Armee bis ub.er den Balkan vorzuschieben, dadurch die Ausdehnung
des Gebiets, welches'er seewärts zu vertheidigen hat, nutzlos vergrößern'würde;
dnß er eine Naumstrecke militärisch zu occupiren hätte, die der Walachei an Aus-


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[0231] Frankreich findet Erwähnung und wird in Hinsicht auf die russischen Verthei¬ digungsmaßregeln näher erörtert. . Ich will im Nachfolgenden etwas Aehnliches versuchen, und zwar stelle ich es mir zur Aufgabe, nach Maßgabe der Wahrscheinlichkeit die strategischen Grund¬ sätze ausfindig zu macheu, auf welche gestützt Rußland den Defensivkrieg gegen die Westmächte führen wird. In diesem Augenblick befindet sich der Zar allerdings noch mehr in der Lage des Angreifenden, als in der entgegengesetzten. Nicht genug, daß seine Armee über den Pruth gegangen, in die Walachei eingebrochen ist und dieselbe besetzt hat: sie überschritt jüngst auch die Donau, nahm die Dobrudscha in Besitz und wird ehestens versuchen, festen Fuß im eigentlichen Bulgarien zu fassen. Aber alle diese Facken widerlegen durchaus nicht die Behauptung, daß der Angriff zum Stehen kommen und in die entgegengesetzte Form der Kriegführung, d. h. in die Vertheidigung umschlagen muß, sobald die französisch-englischen Streitkräfte bei der Entscheidung mitzuwiegen anfangen. Man hat diesen Umschlag bereits ans den Defenstonsanstalten an den baltischen Küsten und denen des schwarzen Meeres herauslesen wollen, was allerdings ein Irrthum ist, denn derartige Ma߬ regeln bleiben unter allen.Umständen für Rußland unerläßlich, falls nicht Sund, Belt und Dardanellen in seinen Händen sind. Mit der Form der sonstigen Kriegführung haben dieselben nicht das mindeste zu schassen, gleichwie Napoleons I. Vertheidigungsanstalten auf der atlantischen und mittelmeevlichen Küste nicht im geringsten bedingend für seine Operationen in Deutschland und Italien waren. Um es also noch einmal zu wiederholen: bis zum Augenblick ist es noch Nußland, welches sich in offensiver Position befindet; diese Stellung aber wird mit dem ersten Austreten der westlichen Heereskräfte ihr Ende erreichen. Die¬ jenigen, welche an die qualitative Ueberlegenheit der westlichen Armeen über die russischen nicht glauben, können wir, um unsrer Betrachtung Halt zu geben, auf das numerische Uebergewicht derselben verweisen. Bei Vertheidigung der Donau haben sich seither die Türken den Russen mindestens ebenbürtig erwiesen. Wir sind demnach im vollen Recht, wenn wir sie in den vergleichenden Stärken- Calcül ihrem ganzen Zahlenwerthe nach aufnehmen. Die Franzosen und Eng- länder zusammen nur auf 60,000 Mann angeschlagen ergibt diese Rechnung den Russen gegenüber eine Heeresmacht von mindestens 200,000 Mann, wogegen es evident ist, daß die letzteren nicht zwei Drittel dieser Summe in Bulgarien zu concentriren im Stande sein werden. Wem dieser Beweis gegen die Möglichkeit einer russischen Offensive noch nicht genügt, den erinnern wir daran, daß der Zar, falls er wirklich im Stande wäre, seine Armee bis ub.er den Balkan vorzuschieben, dadurch die Ausdehnung des Gebiets, welches'er seewärts zu vertheidigen hat, nutzlos vergrößern'würde; dnß er eine Naumstrecke militärisch zu occupiren hätte, die der Walachei an Aus-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/230>, abgerufen am 29.06.2024.