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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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Calderon in Deutschland.

Um den Einfluß, den Calderon auf die deutsche Bühne und aus die deutsche
Literatur überhaupt ausgeübt hat, zu verstehen, muß mau sich den Zustand der
ersteren vergegenwärtigen, als Calderon bei uns eingeführt wurde. Nur aus der
merkwürdigen idealistische" Richtung des Theaters im Uebergang des vorigen
Jahrhunderts zum gegenwärtigen ist es begreiflich, daß man den Versuch wagen
konnte, einen Dichter, dessen religiöse und politische Gesinnungen, dessen sittliche
Vorstellungen und dessen Kunstformen dem Wesen des deutschen Volks ans das
unerhörteste widersprachen, ganz so wie er geschrieben hatte, auf die Bühne ein¬
zuführen und ihn sogar den deutschen Dichtern als Vorbild vorzuhalten. Eben
darum ist es aber auch erklärlich, daß trotz der großen Studien, die man aus die¬
sen Dichter gewandt hat, von einer unbefangenen Würdigung desselben noch nir¬
gend die Rede ist. Denn die sich überhaupt mit ihm beschäftigten, verlangten für
seinen Inhalt wie für seine Form gleiche Anerkennung, und sahen sich meistens in
der Lage, wenigstens bis zu einer gewissen Grenze für seinen sonderbaren spa¬
nischen Ehrbegriff, für seine katholische Bigotterie, für seiue Bildersprache und seine
Versmaße Propaganda zu machen, und das mußte auf der audern Seite die na¬
türliche Reaction hervorrufen, daß man in ihm weiter nichts sah, als eben diese
zunächst hervortretenden Eigenschaften, und daßvman auf das ernsthafteste gegen
die Einbürgerung eines Dichters protestirte, der allen unsern sittlichen Principien
Hohn sprach. Es war das eine ernsthafte und durchaus gerechtfertigte Nothwehr,
denn unsere sittlichen Grundsätze waren und sind noch immer durchaus uicht so
befestigt, daß mau deu Gegensatz derselben mit einer gewissen Liberalität behan¬
deln könnte, umsoweniger, wenn man sieht, wie die Schule, die jene ästhetischen
Principien vertritt, mit der kirchlichen und politischen Reaction Hand in Hand
geht. Erst wenn man über das eigene Wesen soweit ins klare gekommen sein
wird, daß man über die Absurdität, das deutsche Publicum mit Calderonschen
Stücken zu unterhalten, nicht mehr in Zweifel ist, wird man im Stande sein, die


Grenzboten, I, 'lUüi- g
Calderon in Deutschland.

Um den Einfluß, den Calderon auf die deutsche Bühne und aus die deutsche
Literatur überhaupt ausgeübt hat, zu verstehen, muß mau sich den Zustand der
ersteren vergegenwärtigen, als Calderon bei uns eingeführt wurde. Nur aus der
merkwürdigen idealistische» Richtung des Theaters im Uebergang des vorigen
Jahrhunderts zum gegenwärtigen ist es begreiflich, daß man den Versuch wagen
konnte, einen Dichter, dessen religiöse und politische Gesinnungen, dessen sittliche
Vorstellungen und dessen Kunstformen dem Wesen des deutschen Volks ans das
unerhörteste widersprachen, ganz so wie er geschrieben hatte, auf die Bühne ein¬
zuführen und ihn sogar den deutschen Dichtern als Vorbild vorzuhalten. Eben
darum ist es aber auch erklärlich, daß trotz der großen Studien, die man aus die¬
sen Dichter gewandt hat, von einer unbefangenen Würdigung desselben noch nir¬
gend die Rede ist. Denn die sich überhaupt mit ihm beschäftigten, verlangten für
seinen Inhalt wie für seine Form gleiche Anerkennung, und sahen sich meistens in
der Lage, wenigstens bis zu einer gewissen Grenze für seinen sonderbaren spa¬
nischen Ehrbegriff, für seine katholische Bigotterie, für seiue Bildersprache und seine
Versmaße Propaganda zu machen, und das mußte auf der audern Seite die na¬
türliche Reaction hervorrufen, daß man in ihm weiter nichts sah, als eben diese
zunächst hervortretenden Eigenschaften, und daßvman auf das ernsthafteste gegen
die Einbürgerung eines Dichters protestirte, der allen unsern sittlichen Principien
Hohn sprach. Es war das eine ernsthafte und durchaus gerechtfertigte Nothwehr,
denn unsere sittlichen Grundsätze waren und sind noch immer durchaus uicht so
befestigt, daß mau deu Gegensatz derselben mit einer gewissen Liberalität behan¬
deln könnte, umsoweniger, wenn man sieht, wie die Schule, die jene ästhetischen
Principien vertritt, mit der kirchlichen und politischen Reaction Hand in Hand
geht. Erst wenn man über das eigene Wesen soweit ins klare gekommen sein
wird, daß man über die Absurdität, das deutsche Publicum mit Calderonschen
Stücken zu unterhalten, nicht mehr in Zweifel ist, wird man im Stande sein, die


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[0049] Calderon in Deutschland. Um den Einfluß, den Calderon auf die deutsche Bühne und aus die deutsche Literatur überhaupt ausgeübt hat, zu verstehen, muß mau sich den Zustand der ersteren vergegenwärtigen, als Calderon bei uns eingeführt wurde. Nur aus der merkwürdigen idealistische» Richtung des Theaters im Uebergang des vorigen Jahrhunderts zum gegenwärtigen ist es begreiflich, daß man den Versuch wagen konnte, einen Dichter, dessen religiöse und politische Gesinnungen, dessen sittliche Vorstellungen und dessen Kunstformen dem Wesen des deutschen Volks ans das unerhörteste widersprachen, ganz so wie er geschrieben hatte, auf die Bühne ein¬ zuführen und ihn sogar den deutschen Dichtern als Vorbild vorzuhalten. Eben darum ist es aber auch erklärlich, daß trotz der großen Studien, die man aus die¬ sen Dichter gewandt hat, von einer unbefangenen Würdigung desselben noch nir¬ gend die Rede ist. Denn die sich überhaupt mit ihm beschäftigten, verlangten für seinen Inhalt wie für seine Form gleiche Anerkennung, und sahen sich meistens in der Lage, wenigstens bis zu einer gewissen Grenze für seinen sonderbaren spa¬ nischen Ehrbegriff, für seine katholische Bigotterie, für seiue Bildersprache und seine Versmaße Propaganda zu machen, und das mußte auf der audern Seite die na¬ türliche Reaction hervorrufen, daß man in ihm weiter nichts sah, als eben diese zunächst hervortretenden Eigenschaften, und daßvman auf das ernsthafteste gegen die Einbürgerung eines Dichters protestirte, der allen unsern sittlichen Principien Hohn sprach. Es war das eine ernsthafte und durchaus gerechtfertigte Nothwehr, denn unsere sittlichen Grundsätze waren und sind noch immer durchaus uicht so befestigt, daß mau deu Gegensatz derselben mit einer gewissen Liberalität behan¬ deln könnte, umsoweniger, wenn man sieht, wie die Schule, die jene ästhetischen Principien vertritt, mit der kirchlichen und politischen Reaction Hand in Hand geht. Erst wenn man über das eigene Wesen soweit ins klare gekommen sein wird, daß man über die Absurdität, das deutsche Publicum mit Calderonschen Stücken zu unterhalten, nicht mehr in Zweifel ist, wird man im Stande sein, die Grenzboten, I, 'lUüi- g

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/49>, abgerufen am 22.07.2024.