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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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Ueber Taubstummenunterricht.

Unter den Bestrebungen thätiger und uneigennütziger Menschenliebe, welche
unser Jahrhundert vor allen vorangegangenen auszeichnen, nimmt die den
Taubstummen gewidmete Sorgfalt einen der vornehmsten Plätze ein. Diese
unglückliche Menschenclasse, nur mit vier Sinnen geboren und deshalb der ge¬
wöhnlichen Mittel beraubt, ihre Muttersprache zu erlernen, verdient in der
That Theilnahme und entgegenkommendes Bemühen fast mehr als irgendeine
andere. Deutschland ist, wie in allen Dingen dieser Art, so auch im Taub¬
stummenunterricht hinter den zugsührenden Nationen der Civilisation Europas
nicht zurückgeblieben. Die deutsche Methode hat vor der französischen sogar
vielfach eigenthümliche und werthvolle Vorzüge voraus. Sie wird in diesem
Augenblick auf etwa sechzig Schulen zum Segen der heilsbedürftigen Kinder
angewandt, so daß es keinen Winkel des Baterlandes gibt, der nicht eine die¬
ser wohlthätigen Erziehungsanstalten in ganz erreichbarer Nähe hätte. Die
Anstalten zu Berlin, Breslau, Leipzig und Hildesheim mögen die namhaftesten
unter ihnen heißen.

Der Staat hat also schon viel für diesen Zweig des öffentlichen Unter¬
richts gethan. Unsres Wissens besteht in Deutschland noch keine Anstalt, die
nicht der Staat entweder geschaffen hätte oder doch nachhaltig unterstützte.
Dennoch sollte er unsres Erachtens noch etwas mehr thun. Er "sollte rückstcht-
lich des Taubstummenunterrichts den vollständigsten Schulzwang unnachsichtlich
zur Ausführung bringen. Sogar diejenigen Politiker oder Philosophen, welche
die Einmischung des Staats in öffentlichen Unterricht aller Art mit unverho-
lenem Mißtrauen betrachten, werden im Punkt des Taubstummenunterrichts
mit uns derselben Meinung sein. Wieviel mehr diejenigen, welche das herr¬
schende System im wesentlichen für immer zu erhalten wünschen.

Die entscheidende Betrachtung ist sehr einfach. Auch wer der Wirksamkeit
der Staatsgewalten die engsten Grenzen zieht, nimmt darin doch die Sorge für
die öffentliche Sicherheit und die Strafrechtspflege als die erste und wichtigste
Aufgabe auf. Nun denken wir, daß der Staat für die Sicherheit der ihm an¬
vertrauten Gesellschaft nicht besser zu sorgen, sich das schwere und bedenkliche
Geschäft der Strafrechtspflege nicht zweckmäßiger zu erleichtern vermag, als
indem er unter anderen auch solche Vorkehrungen trifft, welche alle bildungs¬
fähigen Taubstummen innerhalb seines Bereichs einem verständig geleiteten
Unterricht zu unterwerfen dienen. Die Annalen der rächenden Gerechtigkeit sind
leider aller Orten voll von Beispielen, in denen ein Taubstummer aus Mangel
an der ihm zusagenden Ausbildung zum Verbrecher gegen irdische und gött¬
liche Strafgesetze wurde. Auf der andern Seite ist es unerhört, daß wirklich
erzogene Taubstumme wegen irgendeines Verbrechens oder Vergehens vor


Ueber Taubstummenunterricht.

Unter den Bestrebungen thätiger und uneigennütziger Menschenliebe, welche
unser Jahrhundert vor allen vorangegangenen auszeichnen, nimmt die den
Taubstummen gewidmete Sorgfalt einen der vornehmsten Plätze ein. Diese
unglückliche Menschenclasse, nur mit vier Sinnen geboren und deshalb der ge¬
wöhnlichen Mittel beraubt, ihre Muttersprache zu erlernen, verdient in der
That Theilnahme und entgegenkommendes Bemühen fast mehr als irgendeine
andere. Deutschland ist, wie in allen Dingen dieser Art, so auch im Taub¬
stummenunterricht hinter den zugsührenden Nationen der Civilisation Europas
nicht zurückgeblieben. Die deutsche Methode hat vor der französischen sogar
vielfach eigenthümliche und werthvolle Vorzüge voraus. Sie wird in diesem
Augenblick auf etwa sechzig Schulen zum Segen der heilsbedürftigen Kinder
angewandt, so daß es keinen Winkel des Baterlandes gibt, der nicht eine die¬
ser wohlthätigen Erziehungsanstalten in ganz erreichbarer Nähe hätte. Die
Anstalten zu Berlin, Breslau, Leipzig und Hildesheim mögen die namhaftesten
unter ihnen heißen.

Der Staat hat also schon viel für diesen Zweig des öffentlichen Unter¬
richts gethan. Unsres Wissens besteht in Deutschland noch keine Anstalt, die
nicht der Staat entweder geschaffen hätte oder doch nachhaltig unterstützte.
Dennoch sollte er unsres Erachtens noch etwas mehr thun. Er "sollte rückstcht-
lich des Taubstummenunterrichts den vollständigsten Schulzwang unnachsichtlich
zur Ausführung bringen. Sogar diejenigen Politiker oder Philosophen, welche
die Einmischung des Staats in öffentlichen Unterricht aller Art mit unverho-
lenem Mißtrauen betrachten, werden im Punkt des Taubstummenunterrichts
mit uns derselben Meinung sein. Wieviel mehr diejenigen, welche das herr¬
schende System im wesentlichen für immer zu erhalten wünschen.

Die entscheidende Betrachtung ist sehr einfach. Auch wer der Wirksamkeit
der Staatsgewalten die engsten Grenzen zieht, nimmt darin doch die Sorge für
die öffentliche Sicherheit und die Strafrechtspflege als die erste und wichtigste
Aufgabe auf. Nun denken wir, daß der Staat für die Sicherheit der ihm an¬
vertrauten Gesellschaft nicht besser zu sorgen, sich das schwere und bedenkliche
Geschäft der Strafrechtspflege nicht zweckmäßiger zu erleichtern vermag, als
indem er unter anderen auch solche Vorkehrungen trifft, welche alle bildungs¬
fähigen Taubstummen innerhalb seines Bereichs einem verständig geleiteten
Unterricht zu unterwerfen dienen. Die Annalen der rächenden Gerechtigkeit sind
leider aller Orten voll von Beispielen, in denen ein Taubstummer aus Mangel
an der ihm zusagenden Ausbildung zum Verbrecher gegen irdische und gött¬
liche Strafgesetze wurde. Auf der andern Seite ist es unerhört, daß wirklich
erzogene Taubstumme wegen irgendeines Verbrechens oder Vergehens vor


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[0123] Ueber Taubstummenunterricht. Unter den Bestrebungen thätiger und uneigennütziger Menschenliebe, welche unser Jahrhundert vor allen vorangegangenen auszeichnen, nimmt die den Taubstummen gewidmete Sorgfalt einen der vornehmsten Plätze ein. Diese unglückliche Menschenclasse, nur mit vier Sinnen geboren und deshalb der ge¬ wöhnlichen Mittel beraubt, ihre Muttersprache zu erlernen, verdient in der That Theilnahme und entgegenkommendes Bemühen fast mehr als irgendeine andere. Deutschland ist, wie in allen Dingen dieser Art, so auch im Taub¬ stummenunterricht hinter den zugsührenden Nationen der Civilisation Europas nicht zurückgeblieben. Die deutsche Methode hat vor der französischen sogar vielfach eigenthümliche und werthvolle Vorzüge voraus. Sie wird in diesem Augenblick auf etwa sechzig Schulen zum Segen der heilsbedürftigen Kinder angewandt, so daß es keinen Winkel des Baterlandes gibt, der nicht eine die¬ ser wohlthätigen Erziehungsanstalten in ganz erreichbarer Nähe hätte. Die Anstalten zu Berlin, Breslau, Leipzig und Hildesheim mögen die namhaftesten unter ihnen heißen. Der Staat hat also schon viel für diesen Zweig des öffentlichen Unter¬ richts gethan. Unsres Wissens besteht in Deutschland noch keine Anstalt, die nicht der Staat entweder geschaffen hätte oder doch nachhaltig unterstützte. Dennoch sollte er unsres Erachtens noch etwas mehr thun. Er "sollte rückstcht- lich des Taubstummenunterrichts den vollständigsten Schulzwang unnachsichtlich zur Ausführung bringen. Sogar diejenigen Politiker oder Philosophen, welche die Einmischung des Staats in öffentlichen Unterricht aller Art mit unverho- lenem Mißtrauen betrachten, werden im Punkt des Taubstummenunterrichts mit uns derselben Meinung sein. Wieviel mehr diejenigen, welche das herr¬ schende System im wesentlichen für immer zu erhalten wünschen. Die entscheidende Betrachtung ist sehr einfach. Auch wer der Wirksamkeit der Staatsgewalten die engsten Grenzen zieht, nimmt darin doch die Sorge für die öffentliche Sicherheit und die Strafrechtspflege als die erste und wichtigste Aufgabe auf. Nun denken wir, daß der Staat für die Sicherheit der ihm an¬ vertrauten Gesellschaft nicht besser zu sorgen, sich das schwere und bedenkliche Geschäft der Strafrechtspflege nicht zweckmäßiger zu erleichtern vermag, als indem er unter anderen auch solche Vorkehrungen trifft, welche alle bildungs¬ fähigen Taubstummen innerhalb seines Bereichs einem verständig geleiteten Unterricht zu unterwerfen dienen. Die Annalen der rächenden Gerechtigkeit sind leider aller Orten voll von Beispielen, in denen ein Taubstummer aus Mangel an der ihm zusagenden Ausbildung zum Verbrecher gegen irdische und gött¬ liche Strafgesetze wurde. Auf der andern Seite ist es unerhört, daß wirklich erzogene Taubstumme wegen irgendeines Verbrechens oder Vergehens vor

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/123>, abgerufen am 28.12.2024.