Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Zum neuen Jahre.
Einleitung in die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts. Von
G. G. Gervinus, (Leipzig, Wilhelm Engelman". 18ö3.)

Hinter Ms liegen wieder die Freuden und Leide" eines Jahres, eine geringe
Zahl von Hoffnungen, welche erfüllt worden find, und die große Menge von
Erwartungen, welche sich als Täuschung erwiesen habe". Ueber die bunten Lichter
der Weihnachtszeit sehen wir alle zusammen, Schreibende und Lesende, Regenten
und Negierte in die wogenden Nebel vor uns hinein, in eine unbekannte Zukunft, die
Jeder in seiner Weise zu deuten und zu formen strebt, je nach seinen Idealen
und praktischen Zwecken, von der jeder Einzelne, je nach Temperament und
Bildung, das Beste hofft oder das Schlimmste befürchtet. Keine politische Partei
wird, wenn sie ehrlich urtheilt, mit den Ereignissen deö letzten Jahres zufrieden
sein können. Selbst die Regierungspartei, trotz der Fortschritte, welche ihre
NcactionSpläne in einzelnen Staaten gehabt haben, empfindet nichts weniger als
Behagen darüber. Zu viel Unzufriedenheit, zu viel Haß, zu viel Schwäche ist
in den letzten Jahren zu Tage gekommen, hat die Gemüther verbittert, den Blick
umflort, das Urtheil irre geleitet. In solchen traurigen Zeiten ist selbst das ein
Zeichen der Güte und der Tüchtigkeit einer Nvlkönatur, wenn solche Stimmungen
und Zustände allgemein von den Einzelnen als ein Unglück gefühlt und ge¬
tragen werden. Zwar ist mürrisches Schweigen weder eine imponirende, noch
eine besonders edle Thätigkeit der Volker, aber wir können in unsrer Nähe sehe",
daß uicht jede Nation in Niederlagen und Unglück selbst diese Art von Haltung
besitzt. Keine Partei in Dentschland hat Ursache, mit dem vergangenen Jahre
zufrieden zusein, denn keiner ist es gelungen, darin männliche Kraft und sicheres
Selbstgefühl zu entwickeln.

Wenn aber das politische Leben ^er Deutschen reich an demüthigenden Erschei¬
nungen war, und wenn selbst in allen Kreisen der praktischen productiven Thätig-


Grenzbotcu. I. -I8L3. 1
Zum neuen Jahre.
Einleitung in die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts. Von
G. G. Gervinus, (Leipzig, Wilhelm Engelman». 18ö3.)

Hinter Ms liegen wieder die Freuden und Leide» eines Jahres, eine geringe
Zahl von Hoffnungen, welche erfüllt worden find, und die große Menge von
Erwartungen, welche sich als Täuschung erwiesen habe». Ueber die bunten Lichter
der Weihnachtszeit sehen wir alle zusammen, Schreibende und Lesende, Regenten
und Negierte in die wogenden Nebel vor uns hinein, in eine unbekannte Zukunft, die
Jeder in seiner Weise zu deuten und zu formen strebt, je nach seinen Idealen
und praktischen Zwecken, von der jeder Einzelne, je nach Temperament und
Bildung, das Beste hofft oder das Schlimmste befürchtet. Keine politische Partei
wird, wenn sie ehrlich urtheilt, mit den Ereignissen deö letzten Jahres zufrieden
sein können. Selbst die Regierungspartei, trotz der Fortschritte, welche ihre
NcactionSpläne in einzelnen Staaten gehabt haben, empfindet nichts weniger als
Behagen darüber. Zu viel Unzufriedenheit, zu viel Haß, zu viel Schwäche ist
in den letzten Jahren zu Tage gekommen, hat die Gemüther verbittert, den Blick
umflort, das Urtheil irre geleitet. In solchen traurigen Zeiten ist selbst das ein
Zeichen der Güte und der Tüchtigkeit einer Nvlkönatur, wenn solche Stimmungen
und Zustände allgemein von den Einzelnen als ein Unglück gefühlt und ge¬
tragen werden. Zwar ist mürrisches Schweigen weder eine imponirende, noch
eine besonders edle Thätigkeit der Volker, aber wir können in unsrer Nähe sehe»,
daß uicht jede Nation in Niederlagen und Unglück selbst diese Art von Haltung
besitzt. Keine Partei in Dentschland hat Ursache, mit dem vergangenen Jahre
zufrieden zusein, denn keiner ist es gelungen, darin männliche Kraft und sicheres
Selbstgefühl zu entwickeln.

Wenn aber das politische Leben ^er Deutschen reich an demüthigenden Erschei¬
nungen war, und wenn selbst in allen Kreisen der praktischen productiven Thätig-


Grenzbotcu. I. -I8L3. 1
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <div n="3">
              <div n="4">
                <pb facs="#f0009" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/185885"/>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Zum neuen Jahre.</head><lb/>
          <div n="2">
            <head> Einleitung in die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts. Von<lb/>
G. G. Gervinus,  (Leipzig, Wilhelm Engelman». 18ö3.)</head><lb/>
            <p xml:id="ID_9"> Hinter Ms liegen wieder die Freuden und Leide» eines Jahres, eine geringe<lb/>
Zahl von Hoffnungen, welche erfüllt worden find, und die große Menge von<lb/>
Erwartungen, welche sich als Täuschung erwiesen habe». Ueber die bunten Lichter<lb/>
der Weihnachtszeit sehen wir alle zusammen, Schreibende und Lesende, Regenten<lb/>
und Negierte in die wogenden Nebel vor uns hinein, in eine unbekannte Zukunft, die<lb/>
Jeder in seiner Weise zu deuten und zu formen strebt, je nach seinen Idealen<lb/>
und praktischen Zwecken, von der jeder Einzelne, je nach Temperament und<lb/>
Bildung, das Beste hofft oder das Schlimmste befürchtet. Keine politische Partei<lb/>
wird, wenn sie ehrlich urtheilt, mit den Ereignissen deö letzten Jahres zufrieden<lb/>
sein können. Selbst die Regierungspartei, trotz der Fortschritte, welche ihre<lb/>
NcactionSpläne in einzelnen Staaten gehabt haben, empfindet nichts weniger als<lb/>
Behagen darüber. Zu viel Unzufriedenheit, zu viel Haß, zu viel Schwäche ist<lb/>
in den letzten Jahren zu Tage gekommen, hat die Gemüther verbittert, den Blick<lb/>
umflort, das Urtheil irre geleitet. In solchen traurigen Zeiten ist selbst das ein<lb/>
Zeichen der Güte und der Tüchtigkeit einer Nvlkönatur, wenn solche Stimmungen<lb/>
und Zustände allgemein von den Einzelnen als ein Unglück gefühlt und ge¬<lb/>
tragen werden. Zwar ist mürrisches Schweigen weder eine imponirende, noch<lb/>
eine besonders edle Thätigkeit der Volker, aber wir können in unsrer Nähe sehe»,<lb/>
daß uicht jede Nation in Niederlagen und Unglück selbst diese Art von Haltung<lb/>
besitzt. Keine Partei in Dentschland hat Ursache, mit dem vergangenen Jahre<lb/>
zufrieden zusein, denn keiner ist es gelungen, darin männliche Kraft und sicheres<lb/>
Selbstgefühl zu entwickeln.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_10" next="#ID_11"> Wenn aber das politische Leben ^er Deutschen reich an demüthigenden Erschei¬<lb/>
nungen war, und wenn selbst in allen Kreisen der praktischen productiven Thätig-</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grenzbotcu. I. -I8L3. 1</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0009] Zum neuen Jahre. Einleitung in die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts. Von G. G. Gervinus, (Leipzig, Wilhelm Engelman». 18ö3.) Hinter Ms liegen wieder die Freuden und Leide» eines Jahres, eine geringe Zahl von Hoffnungen, welche erfüllt worden find, und die große Menge von Erwartungen, welche sich als Täuschung erwiesen habe». Ueber die bunten Lichter der Weihnachtszeit sehen wir alle zusammen, Schreibende und Lesende, Regenten und Negierte in die wogenden Nebel vor uns hinein, in eine unbekannte Zukunft, die Jeder in seiner Weise zu deuten und zu formen strebt, je nach seinen Idealen und praktischen Zwecken, von der jeder Einzelne, je nach Temperament und Bildung, das Beste hofft oder das Schlimmste befürchtet. Keine politische Partei wird, wenn sie ehrlich urtheilt, mit den Ereignissen deö letzten Jahres zufrieden sein können. Selbst die Regierungspartei, trotz der Fortschritte, welche ihre NcactionSpläne in einzelnen Staaten gehabt haben, empfindet nichts weniger als Behagen darüber. Zu viel Unzufriedenheit, zu viel Haß, zu viel Schwäche ist in den letzten Jahren zu Tage gekommen, hat die Gemüther verbittert, den Blick umflort, das Urtheil irre geleitet. In solchen traurigen Zeiten ist selbst das ein Zeichen der Güte und der Tüchtigkeit einer Nvlkönatur, wenn solche Stimmungen und Zustände allgemein von den Einzelnen als ein Unglück gefühlt und ge¬ tragen werden. Zwar ist mürrisches Schweigen weder eine imponirende, noch eine besonders edle Thätigkeit der Volker, aber wir können in unsrer Nähe sehe», daß uicht jede Nation in Niederlagen und Unglück selbst diese Art von Haltung besitzt. Keine Partei in Dentschland hat Ursache, mit dem vergangenen Jahre zufrieden zusein, denn keiner ist es gelungen, darin männliche Kraft und sicheres Selbstgefühl zu entwickeln. Wenn aber das politische Leben ^er Deutschen reich an demüthigenden Erschei¬ nungen war, und wenn selbst in allen Kreisen der praktischen productiven Thätig- Grenzbotcu. I. -I8L3. 1

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/9
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/9>, abgerufen am 26.12.2024.