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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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Eine Bauernhochzeit in Galizien.



Vor dem Schlosse tönt Musik. Drei jüdische Musikanten spielen dem Braut¬
züge auf, welcher vor den Palast des Gutsherrn gezogen ist.

In keinem Lande Europas steht es so traurig mit der Musikkunst als in dem
Gebiet des alte" polnischen Reichs. In den größeren Städten findet man zwar
sehr tüchtige Musikchöre, die übrigens meist ans Deutschen bestehen, und man¬
ches Fortepiano klingt auf die Straße hinab, daß es auch hier kunstfertige Hände
und feiuhörende Ohren gebe. Aber in den meisten der kleinen galizischen Städte,
in denen keine Militärbesatznng liegt, ist nur ein einziges Instrument, der Leier¬
kasten des Schenkwirthes, nach welchem die Bürgerschaft tanzt. Die Dörfer sind
noch traurigere Wüsten. Ein Musikus findet sich allerdings in jedem, aber dieser
ist fast immer eine groteske Karrikatur, ein Bauer oder Knecht, der von den güti¬
gen Göttern mit einigem Kunsttriebe gesegnet ist, sich im Drang der Leidenschaft
eine Geige auf dem Jahrmarkt gekauft hat und auf dieser einige Töne nach dem
bestimmten dreischlägigen Tanztakt herauszubringen lernt. Er kann gewöhnlich
nur einen einzigen Gang -- von einem vollständigen Stück ist die Rede nicht ---
er geigt ihn aber ohne Unterbrechung wiederholt, so lange der Tanz dauern soll,
und beim zweiten Tanze von Neuem. Dieser begabte Mensch thut sich gewöhnlich
auch in anderer Weise hervor, betreibt die Kunst des Rasirens und Haarabschnei-
dens und curirt Vieh, ja selbst Menschen. Der schönen Kunst verdankt er den
Titel Musikant, ans welchen sich der Armselige gewöhnlich nicht wenig zu gute
thut. Er hat aber auch das Glück, seine einzige eigene Composition von 8 Tak¬
ten immer und immer wieder vorzutragen.

Dafür wird er zu jedem Feste, auch wo er nicht zu geigen hat, eingeladen,
und sollte ein Bauer es irgend ein Mal aus Gründen vorziehen, den Musikanten
eines anderen Dorfes in Dienst zu nehmen, so versäumt er gewiß nicht, den ein¬
heimischen zu entschädigen.

Den Juden ist die musikalische Verwahrlosung des Landes, in welchem sie
leben, nicht entgangen und eine sehr richtige Speculation hat sie hier und dort
veranlaßt, die Musik zu ihrem Erwerbsgeschäft zu machen. Gewöhnlich bilden
drei Personen, von denen zwei mit Violinen, eine mit einem Violoncello versehen,
eine Gesellschaft. Sie spielen nach Noten und haben ihre Instrumente schulgerecht
erlernt, wenngleich wohl den wenigsten von ihnen die Unterstützung eines Lehrers
zu Theil werden mochte.

Diese kleinen jüdischen Musikchöre, welche sich im Königreich seit etwa zwan¬
zig Jahren, in Galizien seit etwa zehn bis zwölf Jahren gebildet haben und deren


28*
Eine Bauernhochzeit in Galizien.



Vor dem Schlosse tönt Musik. Drei jüdische Musikanten spielen dem Braut¬
züge auf, welcher vor den Palast des Gutsherrn gezogen ist.

In keinem Lande Europas steht es so traurig mit der Musikkunst als in dem
Gebiet des alte» polnischen Reichs. In den größeren Städten findet man zwar
sehr tüchtige Musikchöre, die übrigens meist ans Deutschen bestehen, und man¬
ches Fortepiano klingt auf die Straße hinab, daß es auch hier kunstfertige Hände
und feiuhörende Ohren gebe. Aber in den meisten der kleinen galizischen Städte,
in denen keine Militärbesatznng liegt, ist nur ein einziges Instrument, der Leier¬
kasten des Schenkwirthes, nach welchem die Bürgerschaft tanzt. Die Dörfer sind
noch traurigere Wüsten. Ein Musikus findet sich allerdings in jedem, aber dieser
ist fast immer eine groteske Karrikatur, ein Bauer oder Knecht, der von den güti¬
gen Göttern mit einigem Kunsttriebe gesegnet ist, sich im Drang der Leidenschaft
eine Geige auf dem Jahrmarkt gekauft hat und auf dieser einige Töne nach dem
bestimmten dreischlägigen Tanztakt herauszubringen lernt. Er kann gewöhnlich
nur einen einzigen Gang — von einem vollständigen Stück ist die Rede nicht -—
er geigt ihn aber ohne Unterbrechung wiederholt, so lange der Tanz dauern soll,
und beim zweiten Tanze von Neuem. Dieser begabte Mensch thut sich gewöhnlich
auch in anderer Weise hervor, betreibt die Kunst des Rasirens und Haarabschnei-
dens und curirt Vieh, ja selbst Menschen. Der schönen Kunst verdankt er den
Titel Musikant, ans welchen sich der Armselige gewöhnlich nicht wenig zu gute
thut. Er hat aber auch das Glück, seine einzige eigene Composition von 8 Tak¬
ten immer und immer wieder vorzutragen.

Dafür wird er zu jedem Feste, auch wo er nicht zu geigen hat, eingeladen,
und sollte ein Bauer es irgend ein Mal aus Gründen vorziehen, den Musikanten
eines anderen Dorfes in Dienst zu nehmen, so versäumt er gewiß nicht, den ein¬
heimischen zu entschädigen.

Den Juden ist die musikalische Verwahrlosung des Landes, in welchem sie
leben, nicht entgangen und eine sehr richtige Speculation hat sie hier und dort
veranlaßt, die Musik zu ihrem Erwerbsgeschäft zu machen. Gewöhnlich bilden
drei Personen, von denen zwei mit Violinen, eine mit einem Violoncello versehen,
eine Gesellschaft. Sie spielen nach Noten und haben ihre Instrumente schulgerecht
erlernt, wenngleich wohl den wenigsten von ihnen die Unterstützung eines Lehrers
zu Theil werden mochte.

Diese kleinen jüdischen Musikchöre, welche sich im Königreich seit etwa zwan¬
zig Jahren, in Galizien seit etwa zehn bis zwölf Jahren gebildet haben und deren


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[0227] Eine Bauernhochzeit in Galizien. Vor dem Schlosse tönt Musik. Drei jüdische Musikanten spielen dem Braut¬ züge auf, welcher vor den Palast des Gutsherrn gezogen ist. In keinem Lande Europas steht es so traurig mit der Musikkunst als in dem Gebiet des alte» polnischen Reichs. In den größeren Städten findet man zwar sehr tüchtige Musikchöre, die übrigens meist ans Deutschen bestehen, und man¬ ches Fortepiano klingt auf die Straße hinab, daß es auch hier kunstfertige Hände und feiuhörende Ohren gebe. Aber in den meisten der kleinen galizischen Städte, in denen keine Militärbesatznng liegt, ist nur ein einziges Instrument, der Leier¬ kasten des Schenkwirthes, nach welchem die Bürgerschaft tanzt. Die Dörfer sind noch traurigere Wüsten. Ein Musikus findet sich allerdings in jedem, aber dieser ist fast immer eine groteske Karrikatur, ein Bauer oder Knecht, der von den güti¬ gen Göttern mit einigem Kunsttriebe gesegnet ist, sich im Drang der Leidenschaft eine Geige auf dem Jahrmarkt gekauft hat und auf dieser einige Töne nach dem bestimmten dreischlägigen Tanztakt herauszubringen lernt. Er kann gewöhnlich nur einen einzigen Gang — von einem vollständigen Stück ist die Rede nicht -— er geigt ihn aber ohne Unterbrechung wiederholt, so lange der Tanz dauern soll, und beim zweiten Tanze von Neuem. Dieser begabte Mensch thut sich gewöhnlich auch in anderer Weise hervor, betreibt die Kunst des Rasirens und Haarabschnei- dens und curirt Vieh, ja selbst Menschen. Der schönen Kunst verdankt er den Titel Musikant, ans welchen sich der Armselige gewöhnlich nicht wenig zu gute thut. Er hat aber auch das Glück, seine einzige eigene Composition von 8 Tak¬ ten immer und immer wieder vorzutragen. Dafür wird er zu jedem Feste, auch wo er nicht zu geigen hat, eingeladen, und sollte ein Bauer es irgend ein Mal aus Gründen vorziehen, den Musikanten eines anderen Dorfes in Dienst zu nehmen, so versäumt er gewiß nicht, den ein¬ heimischen zu entschädigen. Den Juden ist die musikalische Verwahrlosung des Landes, in welchem sie leben, nicht entgangen und eine sehr richtige Speculation hat sie hier und dort veranlaßt, die Musik zu ihrem Erwerbsgeschäft zu machen. Gewöhnlich bilden drei Personen, von denen zwei mit Violinen, eine mit einem Violoncello versehen, eine Gesellschaft. Sie spielen nach Noten und haben ihre Instrumente schulgerecht erlernt, wenngleich wohl den wenigsten von ihnen die Unterstützung eines Lehrers zu Theil werden mochte. Diese kleinen jüdischen Musikchöre, welche sich im Königreich seit etwa zwan¬ zig Jahren, in Galizien seit etwa zehn bis zwölf Jahren gebildet haben und deren 28*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/227>, abgerufen am 24.07.2024.