Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Die modernen Ghibellinen.



Wir woll'n dus Wort nickt brechen.
Nicht Vnder werden gi-ick,
WoU'n predigen und sprechen
Von Küiscr und "om Reich.

S es e " k e n d o r f.

Unsere Revolution erfreut sich neben eines großen Aufwandes von Vernunft
auch eines ziemlichen Vorrathes von Blödsinn. Blödsinn ist der zartere Ausdruck
für Romantik. Wenn die Vernunft einmal einen recht dreisten Anlauf genommen
hat, so taucht, wo sie es am allerwenigsten vermuthen sollte, aus irgend einem
Busch die Pritsche oder bunte Maske eines leichtfüßigen Harlekin hervor und ver¬
setzt ihr einen Schlag, oder ein weißer Pierrot wirft sich ihr mit plumper Zu¬
dringlichkeit um die Beine und bringt sie zu Fall. Unter dem Druck der alten
Polizei haben wir so wunderliche Ahnungen und Träume in "unsers Herzens
Schrein" gehegt, daß wir eigentlich nicht in Erstaunen gerathen dürfen, wenn
jetzt, im Feenland der Freiheit, die Ausgeburten unsers eignen Hirns uns über
den Kops wachsen. Ich habe mir oft gedacht, wenn ich den armen Ladendiener
vor' seinem Pult stehen sah, wie er eine Elle Band um die andere abschnitt und
dazu pflichtmäßig die süß verbindlichen Mienen zog, und eben so artig als fest
um seine fünf Pfennige feilschte und mit dem des Tages wohl hundertmal wieder¬
holten "Empfehle mich ganz gehorsamst" die Scene schloß -- ich habe mir oft ge¬
dacht, wie mag die innere, heimliche Gemüthswelt dieser guten Seele beschaffen
sein, deren offizielles Leben verkümmert und ohne Realität ist! Ich bin über¬
zeugt, er steht Abends vor dem Schlafengehen vor seinem Wandspiegel, wie Lucile
Grcchn, auf einem Zeh, hebt das andere Bein hoch in die Luft, lächelt verklärt,
drückt die müden Hände an die Lippen und lispelt: "Unvergeßlich!"

Wenn nun dem armen Träumer plötzlich das große Loos in den Schooß fiele,
die werdende Realität all' seiner Träume, ich glaube, er finge in der Verwirrung
damit an, sich fleischfarbene Tricots zu bestellen und eine Gänseleberpastete, von
der er einmal aus einem vergriffenenen Clauren des Leihbibliothekars gelesen.

Armes Deutschland! Dein heimliches Gemüthsleben war reich, bunt und phan¬
tastisch, weil du nie auf den Markt kämest aus deiner engen Klanse. Schickte
man dich ja einmal aus Reisen, so nahmst du dein liebes Märchenbuch mit und


Srcnzboten. l. 21
Die modernen Ghibellinen.



Wir woll'n dus Wort nickt brechen.
Nicht Vnder werden gi-ick,
WoU'n predigen und sprechen
Von Küiscr und »om Reich.

S es e » k e n d o r f.

Unsere Revolution erfreut sich neben eines großen Aufwandes von Vernunft
auch eines ziemlichen Vorrathes von Blödsinn. Blödsinn ist der zartere Ausdruck
für Romantik. Wenn die Vernunft einmal einen recht dreisten Anlauf genommen
hat, so taucht, wo sie es am allerwenigsten vermuthen sollte, aus irgend einem
Busch die Pritsche oder bunte Maske eines leichtfüßigen Harlekin hervor und ver¬
setzt ihr einen Schlag, oder ein weißer Pierrot wirft sich ihr mit plumper Zu¬
dringlichkeit um die Beine und bringt sie zu Fall. Unter dem Druck der alten
Polizei haben wir so wunderliche Ahnungen und Träume in „unsers Herzens
Schrein" gehegt, daß wir eigentlich nicht in Erstaunen gerathen dürfen, wenn
jetzt, im Feenland der Freiheit, die Ausgeburten unsers eignen Hirns uns über
den Kops wachsen. Ich habe mir oft gedacht, wenn ich den armen Ladendiener
vor' seinem Pult stehen sah, wie er eine Elle Band um die andere abschnitt und
dazu pflichtmäßig die süß verbindlichen Mienen zog, und eben so artig als fest
um seine fünf Pfennige feilschte und mit dem des Tages wohl hundertmal wieder¬
holten „Empfehle mich ganz gehorsamst" die Scene schloß — ich habe mir oft ge¬
dacht, wie mag die innere, heimliche Gemüthswelt dieser guten Seele beschaffen
sein, deren offizielles Leben verkümmert und ohne Realität ist! Ich bin über¬
zeugt, er steht Abends vor dem Schlafengehen vor seinem Wandspiegel, wie Lucile
Grcchn, auf einem Zeh, hebt das andere Bein hoch in die Luft, lächelt verklärt,
drückt die müden Hände an die Lippen und lispelt: „Unvergeßlich!"

Wenn nun dem armen Träumer plötzlich das große Loos in den Schooß fiele,
die werdende Realität all' seiner Träume, ich glaube, er finge in der Verwirrung
damit an, sich fleischfarbene Tricots zu bestellen und eine Gänseleberpastete, von
der er einmal aus einem vergriffenenen Clauren des Leihbibliothekars gelesen.

Armes Deutschland! Dein heimliches Gemüthsleben war reich, bunt und phan¬
tastisch, weil du nie auf den Markt kämest aus deiner engen Klanse. Schickte
man dich ja einmal aus Reisen, so nahmst du dein liebes Märchenbuch mit und


Srcnzboten. l. 21
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0169" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/278157"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die modernen Ghibellinen.</head><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <quote type="epigraph"> Wir woll'n dus Wort nickt brechen.<lb/>
Nicht Vnder werden gi-ick,<lb/>
WoU'n predigen und sprechen<lb/>
Von Küiscr und »om Reich.</quote><lb/>
          <note type="bibl"> S es e » k e n d o r f.</note><lb/>
          <p xml:id="ID_526"> Unsere Revolution erfreut sich neben eines großen Aufwandes von Vernunft<lb/>
auch eines ziemlichen Vorrathes von Blödsinn. Blödsinn ist der zartere Ausdruck<lb/>
für Romantik. Wenn die Vernunft einmal einen recht dreisten Anlauf genommen<lb/>
hat, so taucht, wo sie es am allerwenigsten vermuthen sollte, aus irgend einem<lb/>
Busch die Pritsche oder bunte Maske eines leichtfüßigen Harlekin hervor und ver¬<lb/>
setzt ihr einen Schlag, oder ein weißer Pierrot wirft sich ihr mit plumper Zu¬<lb/>
dringlichkeit um die Beine und bringt sie zu Fall. Unter dem Druck der alten<lb/>
Polizei haben wir so wunderliche Ahnungen und Träume in &#x201E;unsers Herzens<lb/>
Schrein" gehegt, daß wir eigentlich nicht in Erstaunen gerathen dürfen, wenn<lb/>
jetzt, im Feenland der Freiheit, die Ausgeburten unsers eignen Hirns uns über<lb/>
den Kops wachsen. Ich habe mir oft gedacht, wenn ich den armen Ladendiener<lb/>
vor' seinem Pult stehen sah, wie er eine Elle Band um die andere abschnitt und<lb/>
dazu pflichtmäßig die süß verbindlichen Mienen zog, und eben so artig als fest<lb/>
um seine fünf Pfennige feilschte und mit dem des Tages wohl hundertmal wieder¬<lb/>
holten &#x201E;Empfehle mich ganz gehorsamst" die Scene schloß &#x2014; ich habe mir oft ge¬<lb/>
dacht, wie mag die innere, heimliche Gemüthswelt dieser guten Seele beschaffen<lb/>
sein, deren offizielles Leben verkümmert und ohne Realität ist! Ich bin über¬<lb/>
zeugt, er steht Abends vor dem Schlafengehen vor seinem Wandspiegel, wie Lucile<lb/>
Grcchn, auf einem Zeh, hebt das andere Bein hoch in die Luft, lächelt verklärt,<lb/>
drückt die müden Hände an die Lippen und lispelt: &#x201E;Unvergeßlich!"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_527"> Wenn nun dem armen Träumer plötzlich das große Loos in den Schooß fiele,<lb/>
die werdende Realität all' seiner Träume, ich glaube, er finge in der Verwirrung<lb/>
damit an, sich fleischfarbene Tricots zu bestellen und eine Gänseleberpastete, von<lb/>
der er einmal aus einem vergriffenenen Clauren des Leihbibliothekars gelesen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_528" next="#ID_529"> Armes Deutschland! Dein heimliches Gemüthsleben war reich, bunt und phan¬<lb/>
tastisch, weil du nie auf den Markt kämest aus deiner engen Klanse. Schickte<lb/>
man dich ja einmal aus Reisen, so nahmst du dein liebes Märchenbuch mit und</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Srcnzboten. l. 21</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0169] Die modernen Ghibellinen. Wir woll'n dus Wort nickt brechen. Nicht Vnder werden gi-ick, WoU'n predigen und sprechen Von Küiscr und »om Reich. S es e » k e n d o r f. Unsere Revolution erfreut sich neben eines großen Aufwandes von Vernunft auch eines ziemlichen Vorrathes von Blödsinn. Blödsinn ist der zartere Ausdruck für Romantik. Wenn die Vernunft einmal einen recht dreisten Anlauf genommen hat, so taucht, wo sie es am allerwenigsten vermuthen sollte, aus irgend einem Busch die Pritsche oder bunte Maske eines leichtfüßigen Harlekin hervor und ver¬ setzt ihr einen Schlag, oder ein weißer Pierrot wirft sich ihr mit plumper Zu¬ dringlichkeit um die Beine und bringt sie zu Fall. Unter dem Druck der alten Polizei haben wir so wunderliche Ahnungen und Träume in „unsers Herzens Schrein" gehegt, daß wir eigentlich nicht in Erstaunen gerathen dürfen, wenn jetzt, im Feenland der Freiheit, die Ausgeburten unsers eignen Hirns uns über den Kops wachsen. Ich habe mir oft gedacht, wenn ich den armen Ladendiener vor' seinem Pult stehen sah, wie er eine Elle Band um die andere abschnitt und dazu pflichtmäßig die süß verbindlichen Mienen zog, und eben so artig als fest um seine fünf Pfennige feilschte und mit dem des Tages wohl hundertmal wieder¬ holten „Empfehle mich ganz gehorsamst" die Scene schloß — ich habe mir oft ge¬ dacht, wie mag die innere, heimliche Gemüthswelt dieser guten Seele beschaffen sein, deren offizielles Leben verkümmert und ohne Realität ist! Ich bin über¬ zeugt, er steht Abends vor dem Schlafengehen vor seinem Wandspiegel, wie Lucile Grcchn, auf einem Zeh, hebt das andere Bein hoch in die Luft, lächelt verklärt, drückt die müden Hände an die Lippen und lispelt: „Unvergeßlich!" Wenn nun dem armen Träumer plötzlich das große Loos in den Schooß fiele, die werdende Realität all' seiner Träume, ich glaube, er finge in der Verwirrung damit an, sich fleischfarbene Tricots zu bestellen und eine Gänseleberpastete, von der er einmal aus einem vergriffenenen Clauren des Leihbibliothekars gelesen. Armes Deutschland! Dein heimliches Gemüthsleben war reich, bunt und phan¬ tastisch, weil du nie auf den Markt kämest aus deiner engen Klanse. Schickte man dich ja einmal aus Reisen, so nahmst du dein liebes Märchenbuch mit und Srcnzboten. l. 21

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987/169
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987/169>, abgerufen am 22.12.2024.