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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

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Motiven sich Krankheiten andichten. Wird nun ein solcher schauspielernder
Kranker nur einen einzigen Tag im Spitale verpflegt, so muß die Gemeinde,
der er angehört, für ihn, der gewöhnlich ganz mittellos ist, die Pflege¬
gebühren für acht Tage, und bei längerem Aufenthalte für eine größere
Zeitfrist entrichten. So müssen oft ganze Körperschaften die Abwesenheit
des Journalarztes im Aufnahmczimmer büßen, denn wäre er daselbst stets
ein Arzt, so würde er diese Betrüger entlarven und entschieden zurückweisen.

Folgen wir dein Kranken in


II. das Krankenzimmer.

Das allgemeine Krankenhaus verpflegt in der Zeit, als diese Zeilen
geschrieben wurden (Frühjahr 1847) über :;0W Kranke. Für dieses Heer
von Leidenden sind mit Inbegriff der Irrenanstalt nnr zwölf Primarärzte
angestellt. Mancher dieser Aerzte hat täglich über 200 Leidende zu besu-
chen. Dieser Besuch oder die "Visite" dauert gewöhnlich nicht länger als
1-^ Stunde".

Frage: Ist es möglich, die Behandlung von 200 Kranken in einer so
kurzen Zeitfrist gewissenhaft, wie es das Interesse der Humanität und Wis¬
senschaft verlangt, abzufertigen?

Auf jeden Kranken kommen im Durchschnitt zwei Minuten, und in die¬
sem so rasch vorüberflieheuden Sandkorn der Zeit wird das Befinden erforscht,
die Krankheitsform untersucht, das Heilmittel verschrieben, .der Seelentrost
gespendet? -- "Wie geht's?" lautet die stereotype geflügelte Frage des
Primarius, der, ehe noch die Antwort erfolgt, den trüben Blicken des
nach Antheil und Hülfe schmachtenden Kranken bereits entschwunden ist, um
die gewichtige Frage an hundert andern Krankenlagern mit derselben Estaf-
fetteneile an den Mann zu bringen!

Diese Hast, diese Sturmschuelligkeit geht hin und wieder Hand in Hand
mit einer gefährlichen Zerstreutheit. So fragte einst ein bekannter Prima--
riils bei dem ersten Krankeneramen den Patienten, wie gewöhnlich, im Fluge
und mit preiswürdigen Laconismns: "Wo fehlt's?" Der Kranke antwortet
leise, allein seine Worte verhallen ungehört, da der Primarius nach der
Frage seine Gedanken in ganz andere Richtung abschweifen ließ. Aus der
Zerstreutheit durch eiuen Seufzer des Kranken geweckt, fragt jener blitz¬
schnell: "Husten Sie?" -- "Nein." -- "Schreiben Sie," wandte sich jetzt
der geistesabwesende Primarius an den ihn begleitenden Hilfsarzt, "schrei¬
ben Sie (auf die am Krankenbette befindliche Tafel) tasisis ein'alle-i, und
geben Sie ein dvcoctum emolliv"" (cloeoetuiu iütbvae)."


Motiven sich Krankheiten andichten. Wird nun ein solcher schauspielernder
Kranker nur einen einzigen Tag im Spitale verpflegt, so muß die Gemeinde,
der er angehört, für ihn, der gewöhnlich ganz mittellos ist, die Pflege¬
gebühren für acht Tage, und bei längerem Aufenthalte für eine größere
Zeitfrist entrichten. So müssen oft ganze Körperschaften die Abwesenheit
des Journalarztes im Aufnahmczimmer büßen, denn wäre er daselbst stets
ein Arzt, so würde er diese Betrüger entlarven und entschieden zurückweisen.

Folgen wir dein Kranken in


II. das Krankenzimmer.

Das allgemeine Krankenhaus verpflegt in der Zeit, als diese Zeilen
geschrieben wurden (Frühjahr 1847) über :;0W Kranke. Für dieses Heer
von Leidenden sind mit Inbegriff der Irrenanstalt nnr zwölf Primarärzte
angestellt. Mancher dieser Aerzte hat täglich über 200 Leidende zu besu-
chen. Dieser Besuch oder die „Visite" dauert gewöhnlich nicht länger als
1-^ Stunde».

Frage: Ist es möglich, die Behandlung von 200 Kranken in einer so
kurzen Zeitfrist gewissenhaft, wie es das Interesse der Humanität und Wis¬
senschaft verlangt, abzufertigen?

Auf jeden Kranken kommen im Durchschnitt zwei Minuten, und in die¬
sem so rasch vorüberflieheuden Sandkorn der Zeit wird das Befinden erforscht,
die Krankheitsform untersucht, das Heilmittel verschrieben, .der Seelentrost
gespendet? — „Wie geht's?" lautet die stereotype geflügelte Frage des
Primarius, der, ehe noch die Antwort erfolgt, den trüben Blicken des
nach Antheil und Hülfe schmachtenden Kranken bereits entschwunden ist, um
die gewichtige Frage an hundert andern Krankenlagern mit derselben Estaf-
fetteneile an den Mann zu bringen!

Diese Hast, diese Sturmschuelligkeit geht hin und wieder Hand in Hand
mit einer gefährlichen Zerstreutheit. So fragte einst ein bekannter Prima--
riils bei dem ersten Krankeneramen den Patienten, wie gewöhnlich, im Fluge
und mit preiswürdigen Laconismns: „Wo fehlt's?" Der Kranke antwortet
leise, allein seine Worte verhallen ungehört, da der Primarius nach der
Frage seine Gedanken in ganz andere Richtung abschweifen ließ. Aus der
Zerstreutheit durch eiuen Seufzer des Kranken geweckt, fragt jener blitz¬
schnell: „Husten Sie?" — „Nein." — „Schreiben Sie," wandte sich jetzt
der geistesabwesende Primarius an den ihn begleitenden Hilfsarzt, „schrei¬
ben Sie (auf die am Krankenbette befindliche Tafel) tasisis ein'alle-i, und
geben Sie ein dvcoctum emolliv»« (cloeoetuiu iütbvae)."


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[0560] Motiven sich Krankheiten andichten. Wird nun ein solcher schauspielernder Kranker nur einen einzigen Tag im Spitale verpflegt, so muß die Gemeinde, der er angehört, für ihn, der gewöhnlich ganz mittellos ist, die Pflege¬ gebühren für acht Tage, und bei längerem Aufenthalte für eine größere Zeitfrist entrichten. So müssen oft ganze Körperschaften die Abwesenheit des Journalarztes im Aufnahmczimmer büßen, denn wäre er daselbst stets ein Arzt, so würde er diese Betrüger entlarven und entschieden zurückweisen. Folgen wir dein Kranken in II. das Krankenzimmer. Das allgemeine Krankenhaus verpflegt in der Zeit, als diese Zeilen geschrieben wurden (Frühjahr 1847) über :;0W Kranke. Für dieses Heer von Leidenden sind mit Inbegriff der Irrenanstalt nnr zwölf Primarärzte angestellt. Mancher dieser Aerzte hat täglich über 200 Leidende zu besu- chen. Dieser Besuch oder die „Visite" dauert gewöhnlich nicht länger als 1-^ Stunde». Frage: Ist es möglich, die Behandlung von 200 Kranken in einer so kurzen Zeitfrist gewissenhaft, wie es das Interesse der Humanität und Wis¬ senschaft verlangt, abzufertigen? Auf jeden Kranken kommen im Durchschnitt zwei Minuten, und in die¬ sem so rasch vorüberflieheuden Sandkorn der Zeit wird das Befinden erforscht, die Krankheitsform untersucht, das Heilmittel verschrieben, .der Seelentrost gespendet? — „Wie geht's?" lautet die stereotype geflügelte Frage des Primarius, der, ehe noch die Antwort erfolgt, den trüben Blicken des nach Antheil und Hülfe schmachtenden Kranken bereits entschwunden ist, um die gewichtige Frage an hundert andern Krankenlagern mit derselben Estaf- fetteneile an den Mann zu bringen! Diese Hast, diese Sturmschuelligkeit geht hin und wieder Hand in Hand mit einer gefährlichen Zerstreutheit. So fragte einst ein bekannter Prima-- riils bei dem ersten Krankeneramen den Patienten, wie gewöhnlich, im Fluge und mit preiswürdigen Laconismns: „Wo fehlt's?" Der Kranke antwortet leise, allein seine Worte verhallen ungehört, da der Primarius nach der Frage seine Gedanken in ganz andere Richtung abschweifen ließ. Aus der Zerstreutheit durch eiuen Seufzer des Kranken geweckt, fragt jener blitz¬ schnell: „Husten Sie?" — „Nein." — „Schreiben Sie," wandte sich jetzt der geistesabwesende Primarius an den ihn begleitenden Hilfsarzt, „schrei¬ ben Sie (auf die am Krankenbette befindliche Tafel) tasisis ein'alle-i, und geben Sie ein dvcoctum emolliv»« (cloeoetuiu iütbvae)."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/560>, abgerufen am 29.06.2024.